Eine verspätete Weihnachtsgeschichte
14.01.16
Die Geschichte vom Engellied
Für Harald
Das kleine Mädchen war sehr krank. Ihr Gesicht wurde immer schmaler und die traurigen Augen, die etwas zu suchen schienen was sie nicht fanden, wirkten riesig. Sie war sehr still geworden. Die Tage schienen aus einer grauen Masse zu bestehen und es war, als ob schwere Gewichte ständig an ihr zogen. Sie wusste nicht mehr, ob der Schmerz, den sie fühlte, von innen oder von außen kam, er war allgegenwärtig und löschte jede andere Wahrnehmung aus. Manchmal merkte sie, dass ihre Mutter an ihrem Bett saß, aber ihre Mutter war machtlos wie sie selbst und konnte nichts für sie tun.
Wenn es nur etwas gäbe, was so schön wäre, dass es ihr helfen würde alles andere zu vergessen, dass so schön wäre, dass sie einfach in dieser Freude aufgehen könnte… wie: das Engellied! Als sie vor ein paar Wochen an einem kalten Dezemberabend mit ihrer Mutter durch die Fußgängerzone gegangen war, hatte sie es gehört und war wie verzaubert stehen geblieben. Da stand ein einsamer Geigenspieler und entlockte seinem Instrument Töne, die sie magisch bannten. Sie wusste nicht warum, aber auf einmal spürte sie ein Gefühl von Freude und Geborgenheit, wie sie es nicht mehr gekannt hatte, seit sie mit ihrer Mutter allein geblieben war, weil der Rest der Familie in ein anderes Land fortzog. Dieser Geigenspieler, der ihr zulächelte, war ihr Freund, obwohl sie nie ein Wort gewechselt hatten, und sein Spiel vertrieb die Einsamkeit. Weil ihre Mutter ganz allein lebte und niemals jemanden einlud, gab es in ihrem Leben keine Freunde mit denen sie spielen und toben konnte. Da hatte sie angefangen Freunde in Geschichten zu suchen, die sie las oder sich ausdachte… Und in dieser Melodie verbarg sich eine wunderbare Geschichte von Engeln, die auf den einzelnen Tönen daher schwebten und sie mit in ihren Kreis nahmen, damit sie mit ihnen tanzte. Sie war endlich nicht mehr allein …
Und nach diesem Lied sehnte sie sich in diesen schwarzen Tagen und nach den Engeln, die sie wieder umarmen und forttragen sollten … Und sie flüsterte: das Engellied… Es war das einzige, was sie seit drei Tagen sagte und ihre Mutter war ratlos. Zwar wusste sie, dass das Kind jenes Lied aus der Fußgängerzone meinte, weil sie es schon damals so genannt hatte, aber sie kannte das Lied nicht, weder den Namen noch den Komponisten. Aber weil sie spürte, wie sehr das Kind nach diesem Lied verlangte, fing sie schließlich in ihrer Verzweiflung an im Internet danach zu suchen und in tausend Hörproben hineinzuhören während sie bange am Bett ihres Kindes saß. Lange, sehr lange suchte sie, um zwischen all den abgebrochenen Melodien die eine zu finden…
Und dann, endlich, meinte sie, das Lied wieder zu erkennen. Ein altes Verlagshaus hatte eine CD im Sortiment, auf der dieses Lied zu sein schien. Aber es war abends am 23. Dezember und danach kamen die Feiertage … Sie versuchte anzurufen, aber natürlich antwortete niemand mehr. Da schrieb sie eine E-Mail und während sie sie abschickte, dachte sie hoffnungslos, wie sehr ihr Kind dieses Lied zu brauchen schien und wie unwahrscheinlich es war, dass jemand ihre Nachricht lesen und noch vor den Feiertagen bearbeiten würde…
In dem alten Verlagshaus mit dem neuen Auslieferungsgebäude brannten an dem Abend noch in manchen Büros die Lichter. Viele, viele Aufträge waren eingegangen und viele, die gar nicht in der Auslieferung arbeiteten, hatten in den letzten Tagen mit angepackt um zu helfen, damit alle Bestellungen noch versandt und alle Weihnachtswünsche erfüllt werden konnten. Aber jetzt war der letzte Tag vor Weihnachten gekommen und Elise aus der Auftragsbearbeitung freute sich auf ihren Urlaub. Müde ging sie aus dem Packraum, wo sie mitgeholfen hatte, wieder in ihr Büro, um ihre Sachen zu holen, den Rechner herunter zu fahren und für dieses Jahr mit der Arbeit abzuschließen. Da sah sie, dass noch eine E-Mail angekommen war mit dem Betreff: „Bitte dringend – Engellied“ und während sie schon den Mantel anzog, las sie sie eigentlich nur noch aus Neugierde …
Auch der Schichtleiter unten in der Kommissionierung war müde. In den letzten Wochen hatten sie in Schichten immer bis in die frühen Morgenstunden hinein gearbeitet, und er freute sich, dass dies die letzte solche Nacht war. Endlich Weihnachten … Da stand auf einmal Elise vor ihm … Was wollte sie? Eine dringende Bestellung?? Bestellungen vor Weihnachten waren immer dringend und die zweitausend offenen Positionen die noch im System waren, waren doch bestimmt genau so dringend?! Dass die Leute auch niemals beizeiten anfangen konnten sich Gedanken über Weihnachtsbesorgungen zu machen … Jedes Jahr dasselbe!!! Nein – er würde jetzt keine Bestellung mehr vorziehen. Und damit basta!
10 Minuten später stand Elise wieder vor ihm, diesmal mit einem Blatt Papier in der Hand. Er rieb sich die vor Müdigkeit roten Augen und las …
Für diesen Abend hatten sie noch eine Sonderabholung vereinbart, der LKW würde wahrscheinlich in 10 Minuten abgefahren sein – er biss sich auf die Lippen und rief oben beim Versand an: „den LKW auf keinen Fall abfahren lassen, da gibt es noch eine besondere Sendung, die muss unbedingt noch dazu“. Dann warf er den Hörer auf die Gabel, ging zu einem Kommissionierer und sagte: „mach das bitte sofort fertig und bring es dann selber hoch, damit sie es direkt verpacken. Das soll auf jeden Fall mit.“ Der LKW Fahrer fluchte, aber zum Schluss lag das kleine Päckchen mit Eilaufklebern versehen doch mitten zwischen den vielen tausenden anderen Paketen.
In der Nacht ging es dem kleinen Mädchen noch schlechter als zuvor. Ihre Mutter ging rastlos in dem Zimmer auf und ab. Es war hoffnungslos. Zäh schleppten sich die Stunden dahin: Morgengrauen, Vormittag… Kurz nach Mittag läutete es. Wer wollte etwas von ihnen – sie besuchte doch keiner! Aber es war der Postbote, der vor der Türe stand und meinte: „da haben Sie aber noch Glück gehabt!“ Ungläubig blickte sie auf das Päckchen in ihrer Hand: das war doch nicht möglich! Das musste etwas anderes sein: aber es kam von dem Verlagshaus und als sie es aufriss lag die CD vor ihr. Sie spürte, wie sie fast anfing zu zittern. Wenn es jetzt nur das richtige Lied war!
Sie legte es in die Musikanlage ein und drückte die Play-Taste. Und da waren sie wieder – die Töne von jenem Abend aus der Fußgängerzone. Gespannt beobachtete sie das Gesicht ihres Kindes. Zunächst schien es überhaupt nichts wahrzunehmen. War es etwa doch das falsche Lied? Sie spielte es ein zweites Mal ab. Täuschte sie sic, oder wirkte das Gesicht nicht mehr ganz so verkrampft? Ein drittes Mal – plötzlich öffnete das Kind die Augen und blickte sich suchend um. Und dann schien es auf einmal die Melodie bewusst wahrzunehmen. Die Augen wurden noch größer und ganz langsam zog ein verhaltener Glanz über sein Gesicht. Es lächelte… es lächelte und sah die Engel um sein Bettchen stehen und fühlte sich auf einmal ganz leicht … Das war sein Weihnachten!
….
Zwei Wochen später, als die Feiertage vorüber waren und das Leben langsam wieder seinen gewohnten Gang ging, stand Elise erneut unten in der Kommissionierung mit einem Blatt Papier in der Hand. Schweigend reichte sie es dem Schichtleiter. „Meine Tochter war sehr, sehr krank aber als sie schließlich das Lied hörte, dass sie „Engellied“ nannte, lächelte sie nach Tagen des trüben Dahindämmerns. Es war ein Wunder. Sie hat dieses Lied, von dem ersten Mal, als sie es hörte, mit Engeln in Verbindung gebracht. Aber für mich sind Sie die wahren Engel. Ich weiß nicht, wie Sie das bewerkstelligt haben, aber obwohl ich erst am 23. Abend bestellt hatte, konnte mein Kind am Heiligabend dieses Lied hören – und lächeln! Das war unser ganz besonderes Weihnachten! Ich möchte denjenigen so sehr danken, die meine Nachricht nicht nur mit den Augen gelesen sondern auch mit den Herzen gefühlt haben. Sie ahnen nicht, was das für uns bedeutet hat!“
……
In der Weihnachtszeit gehen täglich unzählige Artikel durch die Hände derer, die im alten Verlagshaus mit der modernen Logistik arbeiten und rollen tausende Kisten, die Bestellungen enthalten, über die Fördertechnik.
So viele, dass man vielleicht nicht daran denkt, dass jede Bestellung ihre Geschichte hat und für den Empfänger wichtig ist.
So viele, dass man vielleicht vergisst dass Bücher und Tonträger viel mehr sind als tote Materie.
Aber wenn sich nächstes Jahr wieder die Pakete türmen (im Verlagshaus - aber auch bei Ihnen zu Hause) dann halten Sie einmal inne und hören Sie ganz genau hin: und vielleicht hören Sie dann ein leises Flüstern, als würde jedes Paket seine eigene kleine Geschichte erzählen. Und vergessen Sie es nicht: Sie sind auch ein Teil der Geschichte. Sie sind die Engel, die dafür sorgen dass Wünsche erfüllt werden können!
Brigitte Nussbächer, 19. Dezember 2015
© Brigitte Nussbächer
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