Einmalige Erlebnisse
30.09.21
Rückschau auf ein Jahrhundert
Im Oktober 1921, also vor 100 Jahren, wurde Michael Schuller im „Repser Ländchen“ geboren. Von damals bis heute hat er viel erlebt, worüber die „Karpatenrundschau“ in seiner alten Heimat Siebenbürgen, als auch die „Siebenbürgische Zeitung“ in seiner neuen Heimat der Bundesrepublik Deutschland seit 2000 berichten. Als Kind war er „Zeuge“ der großen Veränderungen in Europa, nach Rückkehr der Kriegsgefangenen des I. Weltkriegs. Später hat er nicht nur den Zweiten Weltkrieg und seine unmittelbaren Folgen von 1939 bis 1949 „am eigenen Leib“ erlebt - fünf Jahre als Kriegsteilnehmer in der rumänischen Armee, sowie fünf Jahre als Deportierter in einem Bergwerk am Dnjepr. Damals im sowjetischen Lager hat er beispielsweise u.a. unterernährten und kraftlosen Siebenbürgerinnen Kefir (russisch „readschinki“) durch den Stacheldraht gebracht, Essen das sie fürs Überleben benötigten. Nach Rückkehr aus der fünfjährigen Deportation wurde er wegen seiner Nächstenliebe und auch wegen seinen organisatorischen Kenntnissen als Lagerverwalter 22 Jahre lang immer wieder zum „Kirchenvater“ in den Gemeindevorstand von Meeburg gewählt, eine oft heikle Aufgabe in dem kommunistischen Staat, der jede Form des religiösen Lebens ablehnte. Dabei war dem Kirchenmitglied seine gutmütige Ehefrau und seine Kinder ein wirklicher Rückhalt und eine Freude. Auch die Auswanderungswelle der Siebenbürger Sachsen 1990 hat Michael Schuller sozusagen „als Augenzeuge“ erlebt. Er ist somit ein wahrer Zeuge des siebenbürgischen Gesellschaftslebens im 20-ten Jahrhundert. Hier ein Erlebnis von Michael Schuller, der seiner Heimat Siebenbürgen, insbesondere dem „Repser Ländchen“ immer verbunden geblieben ist bis heute.
Die Auswanderungswelle der Meeburger nach dem Regierungsumsturz 1989
1989 war das Jahr der großen Änderungen in der Politik der Ostblockstaaten ... die Straßenschlachten konnten in Direktübertragung im 1. rumänischen Fernsehprogramm verfolgt werden. In Meeburg (in dem Gebiet Reps) kam es nicht zu schwierigen Auseinandersetzungen … Anfang 1990 wurden dann die Grenzen für die Hilfsgüter aus dem Ausland geöffnet. Auch die Familien, die jahrelang vergebens auf die Ausreise zu ihren Angehörigen in den Westen gewartet hatten, konnten endlich aussiedeln … Nachdem im Mai 1990 eine neue Regierung in Bukarest installiert wurde … also nachdem die Meeburger Sachsen wie eigentlich fast alle Rumäniendeutschen vergebens auf eine tiefgreifende politische Änderung gehofft hatten - geriet auch die Meeburger Auswanderungswelle ins Rollen.
(Auf den ersten Aussiedlungsantrag erhielten die Aussiedlungswilligen die sogenannten "großen Formulare", also einen ersten Bewilligungsbescheid, das Zeichen ihrer baldigen Ausreise. Nun zimmerten sie sich die Kisten aus Sperrplatte für ihre Ausreise zusammen, wohin sie ihre wertvollen Sachen wie Kristallgegenstände, Doppelbodengeschirr, Kleidungs- und Trachtenstücke u. a. einpackten und für den sogenannten "großen Zoll" vorbereiteten … Komischerweise konnte die Leichtindustrie auch die Nachfrage an Reisekoffern nicht bewältigen, so daß manche Meeburger in die äußersten Ecken Rumäniens fuhren, um doch mit einem Köfferchen wie ein Schulranzen oder wiederum mit einem großen Koffer wie eine siebenbürgische Hochzeitstruhe nach Hause zu kommen, so daß ihn vollbepackt nur ein ganz starker Mann kaum hochheben konnte - zum Thema Koffermangel wurden sogar komische Sendungen im rumänischen Fernsehen ausgestrahlt … Die Häuser übernahm nicht mehr der Staat gegen einen pauschalen Betrag wie vor dem Umsturz - die Siebenbürger Sachsen mussten sie einfach zurücklassen. Viele nun unbrauchbaren Gegenstände, die man zum Teil seit Generationen aufgehoben hatte, wurden einfach verschenkt, oder man lies sie einfach da zurück … Vor der Abreise einer jeden Familie begleitete fast die ganze Gemeinde sowie Bekannte aus der Umgebung die Wegziehenden zum Bahnhof - dieser Abschied von der Gemeinde wurde so eigentlich zu einer Tradition wie ein Hochzeitszug oder ein Begräbnis. Der jungen Generation fiel der Abschied leicht, weil sie an Trennungen von der Heimatgemeinde gewöhnt war. Die Älteren, die den letzten Krieg und die Verschleppung in die Sowjetunion miterlebt hatten, erkannten jedoch die richtige Bedeutung dieses endgültigen Abschieds.)
Wir wanderten am 1. Juni 1990 mit noch zwei Familien aus, darunter auch der Meeburger Kurator ... Nicht nur Siebenbürger Sachsen, sondern auch Rumänen und Zigeuner waren an diesem späten Nachmittag zum Bahnhof gekommen, um Abschied zu nehmen … Die sächsische Jugend begleitete uns bis Schäßburg, wo wir auf den Schnellzug in Richtung Berlin aufstiegen. In der Morgendämmerung mussten wir, drei Familien, mit dem vielen Gepäck in Prag mit mehreren Taxis zu einem anderen Bahnhof fahren. Aus dem Zug erblickten wir danach in der Morgensonne in Bayern die Felder, Dörfer und Wälder überall mit asphaltierten Wegen. Alles schien uns so geordnet wie in einem großen Park; die Felder hatten so eine satte grüne Farbe, wie ein siebenbürgischer Garten im Sommer nach einem „Platzregen“ ... Dann kam die Trennung: mit meiner Familie fuhr ich zu einer meiner Töchter und danach ins Übergangswohnheim nach Empfingen in den Schwarzwald, der Kurator blieb mit der Familie in Nürnberg, und MH fuhr mit seiner Gattin nach Nordrhein-Westfalen … In der Bundesrepublik Deutschland wurden die Aussiedler erstmals in Übergangswohnheime - bei dem herrschenden Zustrom von Aussiedlern aus Osteuropa auch in Notquartieren - untergebracht, bis ihre ersten Akten fertig waren. Dann konnten sie zu - oder in die Nähe ihrer Verwandten weiterziehen, wo sie ihr neues Zuhause einrichteten. Weil sie die deutsche Kultur, vor allem die deutsche Sprache beherrschten, war es für sie fast eine Leichtigkeit, sich den Gegebenheiten in der neuen Heimat anzupassen ... am meisten fehlte ihnen jedoch das traditionelle Gemeinschaftsleben … Aber dieses wird vorwiegend von der staatlichen Fürsorge ersetzt, und gibt allen einen festen Halt in ihrer neuen Heimat.“
(Notiert 1993 von Michael Schuller für das Heimatbuch „Meeburg“, erschienen 1994).
Heute lebt der hundertjährige Siebenbürger Michael Schuller bei relativ guter Gesundheit in der Region Stuttgart. Vor allem wegen seinem geschätzten Alter wurde er von mehreren Ministerpräsidenten Baden-Württembergs, seiner neuen Heimat, beglückwünscht. Das Geheimnis seines Lebenselixiers in all’ den Jahren: Honig und das Vitalmittel Gelee Royale von seinen Bienen - und Zuversicht. Der Titel eines Artikels über Michael Schuller in einer Regionalzeitung in Südwestdeutschland vor Jahren lautete: „95 Jahre alt, voller Zuversicht“. Laut Duden bedeutet Zuversicht: „festes Vertrauen auf die Erfüllung bestimmter Wünsche und Hoffnungen“. Die HOG Meeburg und die weiteren Freunde des Jubilars wünschen Michael Schuller die beste Gesundheit und weiterhin zuversichtliche Jahre.
O. Zerwes und M. Schuller jun.- HOG Meeburg
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
Herausgeber: Demokratisches Forum der Deutschen im Kreis Kronstadt
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