Erinnerungen an Erich Bergel (I)
09.12.10
„Mit dem Dirigentenstock werde ich alle besiegen!“
Im Juni dieses Jahres wäre der weltberühmte Orchesterleiter und hochgeschätzte Bachforscher Erich Bergel (1. Juni 1930 Rosenau/Râsnov - 3. Mai 1998 Ruhpolding) achtzig geworden. Den Schwerpunkt im umfassenden, diversen Repertoire des international gefeierten Musikers, der 160 Orchester in 34 Ländern dirigierte, bilden Beethoven, Mozart, Brahms, Bruckner; hinzu kommt die lebenslängliche Faszination für Bach. Als Bach-Forscher schrieb Bergel die Bücher „Johann Sebastian Bach, die Kunst der Fuge. Ihre geistige Grundlage im Zeichen der thematischen Bipolarität“, 1980 und „Bachs letzte Fuge. Die Kunst der Fuge – ein zyklisches Werk“, 1985 (beide Max-Brockhaus-Musikverlag Bonn), in denen er zum ersten Mal in der Musikgeschichte die These der thematischen Bipolarität als Grundlage dieses Werkes aufstellte. Er etablierte die Reihenfolge der achtzehn Fugen, ergänzte die von Bach unvollendete Schlussfuge und orchestrierte das gesamte Werk.
Den ersten Kontakt zur Musik erhielt Erich Bergel im Kreise seiner Familie. Von seinem Vater lernte er als Kind Violine, Flöte, Klavier spielen. Hinzu kam der Orgelunterricht in Kronstadt, in der Schwarzen Kirche, bei Prof. Victor Bickerich. Bereits im Alter von achtzehn war Bergel Flötist der Hermannstädter Philharmonie. 1939 debütierte er als Pianist in Kronstadt, 1950 als Organist in Klausenburg. Von 1950 bis 1955 studierte er Dirigieren (bei Antonin Ciolan), Orgel (bei Kurt Mild) und Komposition an der Musikakademie Klausenburg. Als Student gab er über 105 Orgelkonzerte in denen Bachs Musik eine Konstante war. 1955 leitete er das Orchester des Konservatoriums und einen Laienchor in der Aufführung geistlicher Musik von Händel, Bach und Haydn in siebenbürgischen Kirchen, was ihm später zum Verhängnis wurde. Nach vier Jahren am Pult der Philharmonie Großwardein wurde er 1959 zum Chefdirigenten der Klausenburger Philharmonie ernannt, bald darauf aber zu sieben Jahren Haft verurteilt, unter dem empörenden Vorwand, der Leiter einer „staatsbedrohenden subversiven politischen Organisation“ bestehend aus den Gruppierungen „Sopran, Alt, Tenor und Bass“ gewesen zu sein und zur „Verbreitung von religiösem Mystizismus mit Hilfe der Musik“ beigetragen zu haben. Nach dreieinhalb Jahren in Gefängnissen und Arbeitslagern (darunter die gefürchteten Jilava oder Periprava) wurde er 1962 begnadigt und kehrte zurück zur Klausenburger Philharmonie. Hier war ihm das Dirigieren zunächst verboten, sodass er drei Jahre lang im Orchester Trompete spielte.
Sein Motto war aber „Mit dem Dirigentenstock werde ich alle besiegen!“, wie er in einem Brief zwei Jahrzehnte später schrieb. Der Durchbruch gelang ihm am 28. April 1966, als er spontan die Stelle des erkrankten Dirigenten Fritz Mahler am Pult der Klausenburger Philharmonie einnahm und das gesamte Konzertprogramm auswendig dirigierte, was ihm einen Riesenerfolg beim Publikum brachte. Der spektakuläre Auftritt konnte nicht länger ignoriert werden. Kurz darauf wurde Bergel zum Chefdirigenten in Klausenburg ernannt. Er leitete musikalisch auch die Orchester in Bukarest, Jassy, Temeswar, Kronstadt und Neumarkt.
Während dieser Jahre schrieb der Dirigent und Musikwissenschaftler 540 Seiten zu Bachs Kunst der Fuge. Mit Hilfe eines Bekannten gelangte das Manuskript zu Herbert von Karajan, dem Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker, der Bergel sofort ein Stipendium anbot und bei den Bukarester Behörden seinen Einfluss einsetzte, um die Reise des ehemaligen politischen Gefangenen nach Westberlin zu ermöglichen. 1968 verbrachte Bergel beruflich prägende Monate bei Karajan, dessen Freundschaft und Unterstützung er aber nicht nutzten wollte, um im Westen zu bleiben. Jedoch, infolge von unzähligen Schikanen neidischer Kollegen und aus Angst vor einer erneuten Verhaftung in Rumänien, entschloss er sich, nach einem Konzert in Bukarest am 23. Dezember 1971 nach Deutschland zu flüchten.
Damit begann seine internationale Karriere. 1971 dirigierte er zum ersten Mal die Berliner Philharmoniker. Ab 1972 leitete er „alle Eliteorchester“ (Karl Teutsch) in Europa, Nord- und Südamerika, im Nahen Osten, Afrika und Japan, arbeitete als ständiger Dirigent mit den Orchestern in Houston, Brüssel, Straßburg und als Chefdirigent mit dem BBC Wales Symphony Orchestra zusammen. In den Jahren 1971 bis 1974 war er Chefdirigent der Nordwestdeutschen Philharmonie Herford, 1974 bis 1980 leitete er den Orchesterkurs des Internationalen Jugendfestivals in Bayreuth. Er unterrichtete von 1979 bis 1995 Orchesterleitung und -erziehung an der Hochschule der Künste in West-Berlin. 1989 ernannten ihn die Budapester Philharmoniker Chefdirigent auf Lebenszeit.
Die Rückkehr ins Heimatland wurde ihm zwanzig Jahre lang verweigert. Als er beispielsweise 1977 von Ion Voicu für eine Konzertserie nach Bukarest eingeladen wurde, richteten vier rumänische Dirigenten (Mihai Brediceanu, Iosif Conta, Mircea Basarab und Emil Simon) eine Klageschrift an Elena Ceausescu, in dem sie ihn „Landesverräter“ nannten. Nach 1989 wurde er Ehrenbürger von Klausenburg, Ehrendirektor der dortigen Philharmonie, Ehrendoktor der Klausenburger und Bukarester Musikhochschulen. Bergels Diskografie wurde bei ausländischen Schallplattenfirmen aufgenommen, so z.B. Bachs „Kunst der Fuge“ und die Symphonien von Brahms mit der Philharmonie Klausenburg (1991, bzw. 1994 in Budapest), die sich bei Fachleuten, Kritik und Publikum hohen Ansehens erfreuen. Jedoch (und leider) ist in Rumänien noch keine eigenständige Schallplatten- oder CD-Einspielung seiner Musik erschienen.
Der Versuch, diese Lücke zu füllen, kam von dem langjährigen Klausenburger Solotrompeter und Professor Gheorghe Musat, der im Risoprint-Verlag 2007 das Buch „Meine Erinnerungen an Erich Bergel“ („Amintirile mele despre Erich Bergel“) veröffentlichte. Im Herbst 2008 erschien bereits die dritte, ergänzte Auflage des Buches mit zwei CDs (Mitschnitte aus Konzerten in Klausenburg, Wales, Wien, Houston, Cleveland, Chicago sowie Verdis „Requiem“ in Berlin).
Musat schreibt keine Monographie. Er erzählt ganz persönliche Erinnerungen an seinen engen Freund und stellt im Band eine Fülle von Material über Bergels Dirigentenlaufbahn zur Verfügung, von Korrespondenz und Kritiken bis zu Plakaten, Fotos und Listen des Konzertrepertoires in denen rumänische Komponisten regelmäßig vertreten sind. Der Autor schreibt: „kein rumänischer Dirigent hat gegenwärtig oder in der Vergangenheit im Ausland so viele rumänische Werke dirigiert, wie der ’Landesverräter’ Erich Bergel“.
Musat porträtiert ihn als einen Menschen und Musiker mit unwahrscheinlich hohen Ansprüchen an alle, vor allem aber aber an sich selbst. Aus der Sicht des Orchestermitglieds schreibt der Autor: „Seine Konzentrationsfähigkeit, die klare Gestaltung der musikalischen Phrasen, die Hervorhebung der sekundären Ideen gaben dem Instrumentalisten den Eindruck einer magischen Neuentdeckung der Partitur; jede Instrumentengruppe erhielt seine eigene, besondere Individualität, zugleich vibrierte das Orchester in einem einzigen Atemzug. Bergel selbst sagte, dass ’ein Dirigent von Gott begabt sein muss. Er sollte nicht nur musikalisch über eine umfangreiche Bildung verfügen, sondern jederzeit bereit sein, die fachkundigsten und überzeugendsten Antworten zu geben.’“ Wie Musat hervorhebt, gehörten „selbstverständlich“ zur Grundausstattung des Dirigenten „das Kennen des Repertoires, die Analyse der Werke, die Arbeit mit dem Orchester, die Abwägung der Klang- und Farbverhältnisse, die Fähigkeit, immer zu wissen, was im Orchester vorgeht.“ Das alles war bei Bergel nur die Basis für seine einzigartige Musik. Der Dirigent Cristian Mandeal, dem Bergel mehrere Auslandsaufenthalte und Konzerte ermöglicht hatte, bestätigte 2007 in einem Interview: „Bergel unterschied sich von allem, was ihn umgab, um Lichtjahre“ und „war zuallererst Kraft“. Mandeal betrachtete ihn als „DAS Vorbild“.
Christine Chiriac
(Fortsetzung folgt)
Der Dirigent und Musikwissenschaftler Erich Bergel
Foto: Internet
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