„Es war alles gut, so wie es die Vorsehung fügte…“
06.06.25
Kronstädter Musikerinnen (XII): Musiklehrerin, Sprachlehrerin und Theosophin Ella von Hild-Hesshaimer (1875-?)
Die Musikerin und Musiklehrerin Ella von Hild-Hesshaimer (Taufnamen: Gisella Marie), deren autobiographische Aufzeichnungen im Folgenden als Folge 12 der im Jahr 1943 zustande gekommenen Dokumentation über Kronstädter Musikerinnen veröffentlicht werden, ist die Enkeltochter des Kaufmanns Johann Ludwig Hesshaimer (1817-1873) und Nichte der Hesshaimer-Schwestern Leontine Johanna, Julie und Marie Justine, die bereits in dieser Artikelserie vorgestellt wurden. Ihr Vater hieß wie der Großvater Johann Ludwig Hesshaimer, war ebenfalls Kaufmann und lebte von 1845-1917. Die Mutter Julie Friederike Auguste geb. Lassel (1852-1928) war eine Schwester des namhaften Kronstädter Organisten, Chordirigenten und Komponisten Rudolf Lassel.
Ella Hesshaimer heiratete im Jahr 1900 den Ingenieur Ernst Karl Hild von Galantha (1877-1907). Im Jahr 1901 wurde in Budapest ihr Sohn Karl geboren, der Autorennfahrer wurde und nach dem Jahr 1949 nach Argentinien ausgewandert ist.
Todesjahr und Todesort von Ella von Hild-Hesshaimer konnten nicht ermittelt werden. In ihrer Autobiographie fällt auf, dass sie eine begeisterte Verfechterin der theosophischen Lehre gewesen ist, sich aber später von dieser, unter dem Einfluss nationalsozialistischen Gedankenguts, distanziert hat.
Mit 67 Jahren denkt man unwillkürlich daran, durch eine gründliche Rück- und Innenschau das Endergebnis seines Lebens zu prüfen, um zu sehen, inwiefern es einem möglich war, die Aufgaben zu lösen, vor die man im Leben gestellt wurde. Gedanklich habe ich so eine „Reifeprüfung“ oft über mich verhängt, so wie es seit vielen Jahren meine Gewohnheit ist, am Abend den Tag zu überdenken und mit „genügend“ oder „ungenügend“ zu zensurieren.
Dass ich so einen Rückblick über mein Leben schriftlich niederlegen sollte, kam mir nicht in den Sinn, weil es – besonders heute im großen Werden und Geschehen – für andere so unwichtig erscheint, wie unser Lebenslauf verläuft, ob wir überhaupt noch leben oder längst gestorben sind. Solche Rückblicke sind nur für den Menschen selbst von Bedeutung, wenn er an eine Fortsetzung und Wiederholung des irdischen Lebens glaubt.
Da ich nun aber aufgefordert wurde, über mein Leben, Studium und Tätigkeit zu schreiben, will ich es in dem Bewusstsein gerne tun, dass ich mich als Glied einer Gemeinschaft im Kleinen – und zwar als Siebenbürger Sächsin - und im Großen als Deutsche fühle und in diesen beiden Eigenschaften mir voll bewusst bin, dass es zu unseren Pflichten und zu unserem Vorrecht gehört, ein solches Leben zu führen, das unseren Mitmenschen, ich will nicht sagen, als Wegweiser diene, aber doch manche suchende und zagende Seele ermutige und aneifere, im Kampf niemals zu erlahmen und jeden Tag aufs Neue zu beginnen, in der Gewissheit, dass es uns doch gelingen müsse, was es auch sei. Denn die Aufgabe, die uns vom Schicksal gestellt wurde, ist niemals größer als unsere Kräfte. Und wenn dazu noch der Glaube kommt, dann können wir mehr leisten, als von uns gefordert wurde, ohne zu erlahmen.
Ich wurde am 4. Juli 1875 in Kronstadt geboren. Beide Eltern waren sehr musikalisch. Mein Vater spielte die Geige und meine Mutter hatte eine schöne, weiche Sopranstimme. Sie sang mit uns Kindern sehr viel, und ich sehe ein Bild noch heute gerne vor mir, wo wir, zu ihren Füssen sitzend, zusammen zwei- oder dreistimmige Volkslieder singen, wobei meiner Mutter immer fleißige Hände mit einer Handarbeit beschäftigt waren. Die Geschwister meiner Eltern gehörten zu den bekanntesten sächsischen Musikern und Musikerinnen. Ich brauche nur den Namen meines Onkels, Musikdirektor Rudolf Lassel, zu nennen, des Bruders meiner Mutter, und der drei Schwestern meines Vaters, Leontine, Julie und Marie Hesshaimer, deren künstlerisches Klavierspiel vielen Musikfreunden Freude bereitet hat und wohl auch heute noch manchen in Erinnerung lebt.
Mit solch einer Erbmasse ausgestattet, sollte man meinen, müsste auch ich über das Mittelmaß begabt gewesen sein. Deshalb war es natürlich, die Musik als Beruf zu wählen. Mit 13 Jahren begann ich das Studium der Violine, zuerst mit einem Privatlehrer, der mich nach 3 Jahren so weit brachte, dass mich Prof. Hubay (1) auf die königl.-ungarische Musikakademie aufnahm. Ich machte wohl musikalisch rasche Fortschritte, doch zeigte sich bald ein Übelstand, ich hatte eine unverhältnismäßig kleine Hand. Was andere minder begabte Schüler leicht erreichten, an dem musste ich mich angestrengt plagen und hatte doch nicht den gewünschten technischen Erfolg. Dieses ist auch einer der Gründe, warum ich es aufgab, mich zur Virtuosin heranzubilden. Dafür aber brachten es die Verhältnisse mit sich, dass ich sehr viel Kammermusik spielte und später Musikunterricht gab. In der Zwischenzeit spielte ich nach absolviertem akademischem Kurs von 4 Jahren wohl häufig auch öffentlich, mit Klavier- u. Orchesterbegleitung, hauptsächlich aber Kammermusik und immer nur im Rahmen der Wohltätigkeit oder bei Veranstaltungen von Musikliebhabern. Mein Onkel Rudolf Lassel entdeckte eine annehmbare Sopranstimme bei mir, die er ausbildete, und auch diese bescheidene Begabung stellte ich bloß in den Dienst der Wohltätigkeit und geselliger Vereinigungen. Meine besondere Begabung scheint die des Musikunterrichtes gewesen zu sein. Ich unterrichtete zunächst in der Heimat und später in Budapest, wohin mich meine Heirat führte. Anfangs lebte ich allerdings nur der Familie und meinem einzigen Sohn Karl, der zu meiner großen Freude ganz besonders musikalisch ist. Das absolute Gehör hatte er von seinem Vater geerbt, der zwar Ingenieur war, aber ebenso Musiker hätte sein können. Im Klavierspiel ausgebildet, beherrschte er jedes Instrument, das er zur Hand nahm, nach kurzer Zeit, ohne jeden Lehrer. Im dritten Jahre unserer Ehe legte er die Dirigentenprüfung ab. Damals entstanden mehrere Lieder, Gesänge mit Orchesterbegleitung und Violin-Klavier-Stücke. Er starb an Diabetes - ein genialer Mensch.
Mein Sohn Karl studierte Technik und bildete sich nebenbei im Klavier- und Orgelspiel aus. Musik ist ihm auch heute noch Lebensbedürfnis. Gerne lausche ich seinem schönen Klavierspiel. In früheren Jahren konnten wir kaum einen Tag beschließen, ohne einige klassische oder moderne Sonaten gespielt zu haben. Heute ist auch dies vorbei, denn mein Kopfleiden macht mir das Geigenspiel unmöglich.
Bald nach dem Tode meines Mannes erhielt mein Leben eine neue Richtung. Noch zu seinen Lebzeiten hatten wir einen Kreis musikalischer Freunde um uns, mit denen wir regelmäßig Kammermusikabende abhielten. Wir spielten in erster Linie Streichquartette, doch griffen wir häufig auch nach Klavier-Kammermusik. Außerdem spielte ich in einem Orchester von Musikfreunden als Konzertmeisterin, und dieses Orchester – dessen Bläser Mitglieder der Ungarischen Staatsoper waren – trat bei wohltätigen Veranstaltungen ab und zu öffentlich auf. Unser Dirigent war der damals sehr bekannte Musikliebhaber Dr. Georg von Gschwindt, ein tüchtiger, temperamentvoller Dirigent, aber durchaus Autodidakt.
Mit meinem Sohn allein zurückgeblieben, verwendete ich meine freie Zeit, die im Überfluss vorhanden war, neben der Musik zum Sprachstudium. Durch eine englische Lehrerin wurde ich mit der Theosophie (2) bekannt, die mich viele Jahre lang stark interessierte und beschäftigte. Ich übernahm die Leitung von verschiedenen Gruppen zum Zweck theosophischen Studiums, und da die Literatur hauptsächlich englisch war, übertrug ich mehrere Bücher ins Deutsche, die bei Ernst Pieper in Düsseldorf erschienen sind. Ich nahm als Vizepräsidentin des Theosophischen Vereins ziemlich viel Arbeit auf mich, hielt Vorträge in deutscher, englischer und ungarischer Sprache und hatte einen großen Kreis begeisterter Anhänger um mich, denen ich 25 Jahre lang auf dem Wege geistiger Entfaltung vorwärts half. Dabei wurde die Musik durchaus nicht vernachlässigt. Zum Beginn und Ausklang unserer Zusammenkünfte wählten wir stets ernste Kammermusik oder auch Geigenstücke mit Harmonium- oder Klavierbegleitung, ja sogar kleine Streichorchesterstücke konnten wir aus lauter Mitgliedern des Vereines zusammenstellen. Dass mich die Tätigkeit in der Theosophischen Gesellschaft so lange Zeit fesselte, findet ihre Erklärung darin, dass ich glaubte, durch die Lehre der allgemeinen Brüderlichkeit, dann durch die der Wiedergeburt und schließlich durch die aus dem Hinduismus übernommene Lehre von Ursache und Wirkung, dem sogenannten „Karma“-Gesetz oder Schicksalsgestaltung die Möglichkeit gefunden zu haben, den in Leid und geistiger Not befangenen Menschen helfen und ihnen den Weg zur geistigen Freiheit zeigen zu können. Inwieweit mir dieses gelungen ist, will ich hier nicht feststellen. Ich weiß nur, dass es mir durchaus ernst war, dass mich meine immer größer werdende Menschenliebe und Hilfsbereitschaft bei meiner Tätigkeit leitete. Besonders nach dem Weltkrieg gab es viele erschütterte Existenzen und Gemüter, die den Weg zu uns fanden und dadurch anscheinend neuen Lebensmut errangen. Nach dem Weltkrieg verlor ich mein ganzes Vermögen, von dem ich mit meinem Sohn und meiner Mutter lebte. Daher begann ich nach längerer Pause wieder Musikunterricht zu geben. Auch verwendete ich meine Sprachkenntnisse und konnte auf diese Weise mich und meine kleine Familie erhalten, bis endlich mein Sohn so weit war, um für uns sorgen zu können.
In dieser Zeit machte ich viele Reisen nach Deutschland, Holland, Spanien, wo Kongresse und Jahresversammlungen abgehalten wurden, und im Jahre 1925 fuhr ich nach Indien zum Weltkongress, der in Adyar (Madras) 75 verschiedene Nationen zusammenführte (3). All diese Erlebnisse werden mir für immer unvergesslich sein. Ich lernte viele interessante Menschen kennen, war mit den großen Führern der Theosophischen Gesellschaft persönlich oft zusammen und habe zahlreiche Rechenschaftsberichte über die gemeinsamen Arbeiten in den verschiedenen Ländern gehalten. Die Lehren der Theosophie halfen mir über viele Enttäuschungen und Verluste im Leben hinweg und gaben mir die Kraft, nicht nur selbst im Lebenskampf nicht zu unterliegen, sondern auch anderen auf die Beine und vorwärts zu helfen.
Dass ich trotz alledem nach 25-jähriger Tätigkeit der Theosophischen Gesellschaft ferne blieb, ist damit zu erklären, dass der Wandel der Zeiten auch mich ergriff, dass ich verstehen lernte, um was es heute geht, und dass ich in erster Linie das Überhandnehmen des internationalen Geistes in den Theosophischen Vereinigungen der verschiedenen Länder nicht mehr ertragen konnte. Aus dem idealen Gedanken einer allgemeinen Verbrüderung der Menschheit in diesem Sinne wurde allmählich eine erstarrte Form ohne Leben. Ich fand, dass ich auch außerhalb einer solchen Vereinigung meinen Idealen leben und die Lehren in die Tat umsetzen konnte. So trat ich im Jahre 1936 aus der Theos. Gesellschaft aus. Seither wirke ich bloß im kleinen Kreise vereint mit einigen Freunden, wobei wir gemeinsam trachten, auf dem Wege geistiger Erkenntnis vorwärtszuschreiten. Wollten wir dieser Arbeit einen Namen geben, so könnten wir sie „Seelenschule“ nennen. Ihr Ziel ist, durch Läuterung und Überwindung der niederen menschlichen Natur den Weg zum Licht, zur Liebe, Wahrheit und Freiheit zu finden, u. rückblickend auf meinen Lebenslauf kann ich nur dankbar sagen, es war alles gut, so wie es die Vorsehung fügte.
Ella von Hild-Hesshaimer
(Vorspann, redaktionelle Bearbeitung und Anmerkungen:
Wolfgang Wittstock)
Anmerkungen:
(1) Jenö Hubay von Szalatna (1858-1937, ursprünglicher Name: Eugen Huber) war ein berühmter ungarischer Violinist und Komponist, ab 1886 Violinprofessor an der Budapester Musikakademie.
(2) Theosophie: „jede Bestrebung od. Lehre, die den Sinn des Weltgeschehens auf Grund religiösen Glaubens erfassen will“ (G. Wahrig: Deutsches Wörterbuch, Gütersloh/München 1991).
(3) Adyar: Stadtteil von Chennai (bis 1996: Madras), Hauptstadt des indischen Bundesstaates Tamil Nadu, wohin die Theosophische Gesellschaft 1882 ihr Hauptquartier verlegt hat.
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
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Redaktuere:Ralf Sudrigian, Hans Butmaloiu, Christine Chiriac (Redakteurin, 2009-2014), Dieter Drotleff (Redaktionsleiter 1989 - 2007)
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