Familiengeschichte und Literatur
18.03.10
Der österreichische Schriftsteller Gerhard Roth schildert das Drama seiner Großeltern aus Siebenbürgen
Gerhard Roth (geb. am 24. Juni 1942 in Graz), einer der profiliertesten österreichischen Schriftsteller der Gegenwart, der als vielseitiger Erzähler, Drehbuchautor, Verfasser von Dramen, Hörspielen, Reportagen mehrfach ausgezeichnet wurde, stammt väterlicherseits aus Siebenbürgen. Nach einem abgebrochenen Medizinstudium arbeitete er zunächst als . Programmierer in Graz und ab 1976 als freier Schriftsteller mit wechselndem Wohnsitz in Hamburg, Wien und in der Steiermark. 1983 erhielt er den renommierten Alfred-Döblin-Preis, 2003 das Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien. Filme nach seinen Drehbüchern wurden international ausgezeichnet. Sein Hauptwerk sind die aus mehreren Teilen gebildeten „Archive des Schweigens“. Sein zwölfter Roman „Das Alphabet der Zeit“ geht ausführlich auf die Selbstbiographie des Erzählers ein und schildert u. a. die anrührende Figur der siebenbürgischen Großmutter Friederike und im separaten Anhang die Familiengeschichte des Vaters, der in Reps/Rupea geboren wurde, in Mediasch das Gymnasium besuchte und anschließend in Wien und Bologna Medizin studierte. Im hier abgedruckten Auszug aus dem 2007 im S. Fischer Verlag (Frankfurt am Main) verlegten Roman werden die näheren Umstände der Übersiedlung der Großmutter aus Kronstadt nach Graz geschildert. (Horst Schuller Anger)
GERHARD ROTH
Der Brief
Am 25. Dezember 1947, dem Christtag, draußen lag Schnee, und wir schliefen noch, weckte uns der Briefträger, der im Garten laut den Namen meines Vaters lief und, nachdem er eine Antwort erhalten hatte, ein Telegramm an die Wohnungstür brachte. Meine Mutter nahm es entgegen und übergab es ungeöffnet meinem Vater. Vorsichtig und fast widerstrebend öffnete er die Verklebung und las. Meine Mutter sah ihn wie in einem Stummfilm fragend an, und wie in einem Stummfilm gab er ihr das Telegramm zurück. Meine Mutter, eine spontane und mitfühlende Frau, sagte dann, als sie es überflogen hatte: „Euer Großvater in Rumänien ist gestorben.“ Dann legte sie sich zu Vater auf das Bett, schaute ihn an und streichelte ihn. Das Telegramm hatte wegen des „Eisernen Vorhanges“, der schwer bewachten Grenze zu den kommunistischen Ländern, elf Tage gebraucht, Großvater war, wie sich aus dem Inhalt ergab, schon am 14. Dezember gestorben. Da ich die Siebenbürger Großeltern nur vom Hörensagen kannte, befriedigte mich der nun nachträglich erbrachte Beweis, dass der Großvater wirklich gelebt hatte. Andererseits verwunderten mich die Betroffenheit und Trauer meines Vaters.
„Kümmere dich um die Kinder“, sagte er nach einer Weile zu meiner Mutter, stand auf und ging in das Ordinationszimmer, wo er den ganzen Vormittag über blieb. Ich machte mir Gedanken, weil er so still war, als sei er gar nicht zu Hause. Unsere Mutter erklärte uns inzwischen, wer der rumänische Großvater gewesen sei.
„Stellt euch vor, euer Vater wäre gestorben und ihr würdet ihn nie mehr wieder sehen“, sagte sie. Ich versuchte es mir vorzustellen, aber es gelang mir nicht.
Über die beiden Würfel, die mir von Lore Reiter geschenkt worden waren, hatte ich inzwischen gelernt, Buchstaben zu erkennen, und Mutter hatte mich dafür voller Freude gelobt.
Ich nahm daher einen der Würfel und ging in das Ordinationszimmer, wo mein Vater am Tisch vor dem Fenster saß und schrieb. Er war so abwesend, dass er mich nicht hörte. Ich kam näher, hielt ihm den Würfel hin und las - „E“ und „H“ und zeigte mit dem Finger auf die Buchstaben. Mein Vater schrieb gerade mit seiner Pelikan-Füllfeder, die ich sehr bewunderte und deren Markenzeichen, der Vogel mit dem riesigen Schnabel, meine Fantasie anregte, etwas auf ein Blatt Papier. (*)
Er sah mich verstört an und sagte: „Ja, ja . . . geh hinaus spielen.“ Dann schrieb er weiter. Wie ich von da an immer wieder hörte, war Großvater an Lungenentzündung gestorben, weil ihm das Penizillin, das mein Vater geschickt hatte, vorenthalten wurde. Großmutter sprach später aber nur davon, dass er ermordet worden war. Niemand sei an sein Krankenlager gelassen worden, sie selbst habe sich auf Befehl eines Funktionärs im Nebenzimmer aufhalten müssen, wo sie ihren Mann habe husten und rufen hören. Der Funktionär habe vor der Tür Wache gehalten und ihr den Zutritt verwehrt. Als sie versucht habe, durch Klopfzeichen und Rufe mit ihrem Mann Kontakt aufzunehmen, sei ihr gedroht worden, dass sie in das Gefängnis gebracht würde, wenn sie sich dem Befehl, still zu sein und zu kooperieren, widersetze. Trotz ihrer drängenden Bitten habe man sich geweigert einen Arzt kommen zu lassen. Der Fall war für mich lange Zeit rätselhaft. Weshalb hatte meine Großmutter nicht selbst einen Arzt geholt? Am Geld konnte es nicht gelegen haben. Stand sie unter Hausarrest und wenn ja, weshalb? Sie sprach nie über Politik. Weder sie noch ihr Mann hatten je Sympathien für Hitler gehabt. Immer wieder betonte meine Großmutter, Großvater sei „Berufssoldat“, Offizier der k. u. k.-Armee gewesen, Monarchist und überzeugter Untertan Kaiser Franz Josephs. Bis zu ihrem Tod sprach sie in verehrungsvollem Ton vom österreichischen Kaiser, von dem ein Farbdruck in ihrem Zimmer hing. Wenn ich sie fragte, wer ihr verboten habe, mit Großvater zu reden, antwortete sie nur: „Die Kommunisten.“ Meine Großeltern waren vermögende Menschen gewesen, mit Privatbesitz, Schmuck und Bargeld, erfuhr ich, dass habe genügt, um dem kommunistischen Regime suspekt zu sein. Großvater arbeitete bis zuletzt als Prokurist in der Firma seines Verwandten Joseph Roth, genannt Sepp-Onkel, der ein Geschäft für Zahnprothesen führte sowie eine Gold- und Silberscheideanstalt betrieb, denn im Siebenbürger Erzgebirge wurde noch Ende der dreißiger Jahre eines der größten Goldvorkommen in Europa abgebaut. Joseph Roth hatte Gold aus Bistritz, aus Groß- und Kleinschlatten, aus Altenburg und Ruda gekauft, wurde mir erzählt, und als Deutsche seien sie für die Kommunisten automatisch. „Nazis“ gewesen und „Bourgeois“ obendrein. Sie wurden enteignet und vertrieben. Meine Großeltern hatten die Flucht nach Österreich zu ihrem Sohn zu spät geplant. Sie vertrauten damals ihr bewegliches Vermögen einer Diakonisse der Evangelischen Kirche und einem professionellen Grenzgänger an - Gold, Schmuck und Geld. Der Schmuggler wurde mit dem kleineren Teil des Vermögens gefasst und die Diakonisse tauchte unter. Großvater hatte ihr eine hohe Belohnung versprochen, falls sie es schaffen würde, mit seinem Gut über Ungarn in die britische Zone nach Österreich zu fliehen. Wider Erwarten gelang ihr das schwierige Unterfangen, und sie ließ sich zunächst in Kärnten nieder, wo sie aber mein Vater ausfindig machte. Doch bevor es zu einer Begegnung mit ihr kommen konnte, verschwand sie. Jahre später erfuhr er, dass sie nach Amerika ausgewandert war. Es gelang ihm noch einmal, ihren Wohnort aufzuspüren, dann aber verloren sich ihre Spuren. Vermutlich hatte sie geheiratet und einen anderen Namen angenommen.
Nachdem der Schmuggler gestanden hatte, für wen er das Gold und Geld habe über die Grenze bringen wollen, wurden die Großeltern verhört, wo sich der Rest ihres Vermögens befände. Ihre Möbel wurden aus der Wohnung geschafft und in den Räumen „Funktionärsbüros“ eingerichtet. Es kam zu weiteren Verhören, Hausdurchsuchungen, Androhung von Gewalt. In ihren verbliebenen zwei Zimmern, die sie getrennt bewohnen mussten, wurde die Heizung abgeschaltet. Im Winter 1947 erkrankte Großvater schließlich an Lungenentzündung und man verlangte von ihm und seiner Frau, dass sie endlich ihr Versteck preisgäben, wenn sie ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen wollten. Es waren jedoch keine Geheimnisse mehr zu verraten. Großmutter erzählte uns, wie sie ihren Mann durch die Wand habe husten, keuchen und röcheln und nach ihr rufen hören, sie sei jedoch mit Gewalt daran gehindert worden, ihn noch einmal zu sehen. Nachdem er „aufgehört“ habe „zu atmen“, wie sie immer sagte, habe sie das Zimmer betreten und kurz von ihm Abschied nehmen dürfen, bevor er weggeschafft worden sei. Schon vor dem Tod Großvaters wurden all seine übrigen Verwandten von den Kommunisten verhört, die jüngeren wie die Cousine „Mädi“ in den Ural verschleppt, wo sie zur „Strafarbeit“ in einem Bergwerk herangezogen wurde. Nachdem sie mehr als sieben Jahre unter Tag Kohle abgebaut hatte, erkrankte sie an Staublunge und durfte nach Deutschland auswandern. Ein Onkel wiederum, erzählte Großmutter, war in Reps den einmarschierenden russischen Soldaten mit dem Jagdgewehr in der Hand entgegengetreten, um mit ihnen zu verhandeln, und war sofort erschossen worden.
Das sind die Geschichten, die ich über die Siebenbürger Vorfahren immer wieder hörte.
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(*) Es war ein Brief an seine Mutter, den ich jetzt sechzig Jahre später wieder und wieder lese, da ihn Großmutter und dann mein Vater bis zu ihrem Tod unter ihren Papieren aufbewahrt hatten.
„Heute früh ist das Telegramm angekommen... So schwer ist's mir ums Herz, wie noch nie in meinem Leben... Das ganze Leben von Vater war ein einziges Sorgen und Mühen um uns ... Ich fühle es, Mutter, ER ist, trotzdem ihn die Erde aufgenommen hat, in mir, in uns - um uns. Ich will so leben, wie ER gelebt hat, und erfülle damit sein Vermächtnis . . . Sei stark und komm zu uns, wir wollen dein weiteres Leben beschützen und behüten... Mein Herz ist so voller Trauer, dass ich es nicht in Worten ausdrücken kann. Das Schicksal hat es nicht gewollt, dass ich meinem Vater in größter Not helfen konnte ... Nun ist es unabänderlich ... Bis an mein Lebensende will ich keinen Schritt tun, ohne daran zu denken, was ER an meiner Stelle getan hätte. So soll Vater in mir weiterleben, und seine gute Seele wird mir den richtigen Weg weisen.“
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
Herausgeber: Demokratisches Forum der Deutschen im Kreis Kronstadt
Redaktion: 500.030 Braşov, Str. GH. Baiulescu 2,
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Redaktuere:Ralf Sudrigian, Hans Butmaloiu, Christine Chiriac (Redakteurin, 2009-2014), Dieter Drotleff (Redaktionsleiter 1989 - 2007)
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