Fastnacht in Kleinscheuern
18.02.16
Narrenfreiheit vor der Zollabfertigung
Während der Kleinscheuerner Pfarrvakanz 1967/77 bestellte ich von Reußdörfchen aus die Vertretung in der Nachbargemeinde. Sie dauerte bis nach Ostern. Mit der Fastnacht ´77 kam nun der Narrentag in den rituellen Alltag der Gemeinde. Und weil mein Großonkel, der Bruder meiner Großmutter, Martin Bock, Nachbarvater in der zweiten Nachbarschaft war, nahm ich seine Einladung an.
Die Siebenbürgische Fastnacht war immer schon etwas Besonderes. Ich will mich nicht mit der Schilderung der aufgetragenen Speisen aufhalten. Denn darüber hinaus wurde flott gesungen, gegessen und getanzt - und schließlich wurde eine Narretei nach der anderen ausgeheckt. Die Veteranen des Ersten Weltkriegs sangen zu ihrer und zu unserer Belustigung die alten Kriegslieder unter anderem: Prinz Eugenius, der edle Ritter / wollt’ dem Kaiser wiedrum bringen Stadt und Festung Belgerad; /Er ließ schlagen einen Brucken, / dass man kunnt hinüberrucken / Mit der Armee bis vor die Stadt.
Und dann kamen die Überraschungen des Nachmittags. Als erstes zogen die „Hofnarren“ der zweiten Nachbarschaft los. Unter ihnen auch die Verwandten meiner Großmutter. Vor dem Haus hielt ein Trecker. Er zog zwei Betonmischmaschinen hinter sich her, die in große bunte Flauschdecken eingekleidet waren, deren Innenräume miteinander verbunden waren. Hinter den Betonmischern marschierten alte Männer, die sich in exzentrische, fantasievoll gestaltete Frauengewänder eingekleidet hatten. Sie waren übertrieben geschminkt und benahmen sich wie Vetteln. Schließlich wurden sie mit viel Klamauk einzeln zu der Öffnung des Betonmischers emporgehoben und mit dem Kopf voran in der Betonmaschine versenkt. Dabei konnte man die behaarten Beine aber auch die altmodische Unterwäsche in Augenschein nehmen. Nachdem sie der Reihe nach „verschluckt“ wurden, und der Zauberer Merlin sein Abrakadabra von sich gegeben hatte, krochen aus der vorderen Betonmischerine junge Männer heraus, in ebenso fantasievolle Frauengewänder eingekleidet. Der Zauberer rief nun laut und forderte auf, dem Beispiel der älteren „Damen“ zu folgen, denn die Einrichtung sollte eine Verjüngungsmaschine sein. Es sollte von hinfort kein Altern mehr geben unter den Weibern – und die zankhaften Vetteln sollten in manierliche Frauenzimmer umgewandelt werden. Nun gut, die jungen „Weiber“, führten, kaum dass sie dem Zauber entstiegen waren, einen Reigen auf, schmiegten sich dann aber an die jungen Männer, die den Gehsteig säumten und taten sehr zweideutig, sodass es (gestellte) Eifersuchtszenen gab.
Die ganze Vorführung dauerte eine gute halbe Stunde. Dann zog der Trecker an -und die beiden Betonmischmaschinen wurden fortgezogen, wobei die Vorführung vor der nächsten Nachbarschaft wiederholt wurde. Bei der fünften Nachbarschaft gab es ein noch größeres Hallo. Und das kam so: Die Bühne bildete gleichfalls ein Trecker mit Anhänger. Auf dem Anhänger machte sich ein breiter, braun polierter Schreibtisch breit. Über dem Schreibtisch prangte eine Aufschrift, weithin leserlich: „Paschapoarte“. Darunter stand der Name Gherghel. Es handelte sich um den damaligen Hermannstädter Verantwortlichen für die Ausfolgung der Reisepässe. Je mehr sich der Trecker mit Anhänger und Schreibtisch dem Faschingshaus einer Nachbarschaft näherte, je mehr Zuschauer liefen zusammen. Endlich hielt der Trecker. Genosse „Gherghel“ mit Ledermantel und Sonnenbrille, erhob sich vom Schreibtisch und wühlte in einer Schuhschachtel. Er holte die Arbeitsbücher (!) von zwölf Personen ans Tageslicht, die um den Pass „eingereicht“ hatten. (Die Arbeitsbücher hatte sich der „Darsteller des Schefs der Paschapoarte“, der Schandore Gätz, insgeheim vom „Kaderschef“ der Staatsfarm ausgeliehen). Ob er das damals hätte tun dürfen – wer kann das heute sagen? Narrenfreiheit ist Narrenfreiheit! Und nun wartete „Gherghel“ den Augenblick ab, dass der Trecker stillstand. Dann hielt er in sächsischer Sprache eine schwunghafte Rede über die Charta der Menschenrechte (!), die ich hier nicht wiedergeben muss. Die sächsische Mundart verträgt keine leeren Worthülsen. Dann hieß es weiter: „Liebe Genossen Sachsen! Zur heutigen „Aodänz“ erwarte ich folgende Staatsbürger“: Und jetzt nahm er die Arbeitsbücher zur Hand und rief ihre Namensträger einzeln auf:. Hans Bordon, Martin Bock, Johann Modjesch, Thomas Lutsch, Josef Schneider, Martin Rill, Michael Roth, Martin Theiss, Elisabeth Benning, Katharina Antal, Hans Lokodi und Susanna Seiler. Ihr seht, die Pässe sind ausgestellt; aber ich erwarte, dass die Genannten sich ihre Absicht, auswandern zu wollen, noch einmal überlegen mögen. Sie sollten sich die Sache noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Viele Köpfe, viele Sinne! Kommt Zeit, kommt Draht – hoffentlich kein Stacheldraht! Bis zum nächsten Fasching habt ihr Zeit genug.“
Dann zog der Trecker an und der Herr der Pässe musste sich, so gut es ging, am Schreibtisch festhalten. Unter tosendem Beifall verließ die Wanderbühne die zweite Nachbarschaft und wiederholte die Darbietung vor der dritten, vierten, vielleicht sogar vor der fünften Nachbarschaft. Wenn ich gut weiß, gab es neun Nachbarschaften. Schwierigkeiten hat es keine gegeben. Die beiden Ortspolizisten (Milizionäre) begleiteten den Aufzug in einem diskreten Abstand. Zeitweilig konnte man ihren Gesichtern ein mitfühlendes Lächeln ablesen.
Der Pass war damals das Allerweltsgespräch. Sogar die Kinder spielten „Wir haben den Pass bekommen“. Die Gespräche ihrer Eltern und Großeltern haben wohl auf ihre kindliche Phantasie abgefärbt – und das genügte für ein Spiel. Unsere Senta wollte wissen, was ein Pass ist. Ich erklärte ihr, das sei ein Büchlein, in dem ein Name eingetragen sei; wer den Pass an der Grenze vorzeigt, darf ins Nachbarland hinüberziehen. - Und ihre Neugierde war gestillt.
Eines Tages spielten unsere Töchter Melitta und Senta wieder einmal „Wir haben den Pass bekommen“. Die Nachbarkinder Renate, Elfriede und Inge waren auch dabei. Ich war anderweitig beschäftigt, also war ihr Lieblingsspielplatz, der Amtsraum, frei. Senta entdeckt auf meinem Schreibtisch ein Büchlein. Es ist das Neue Testament in Kleinformat, das ich von meinem Großvater geerbt hatte. Senta kommt mir freudestrahlend entgegen und fragt:: „Tata, huést Ta den Pass bekunn?“ An der Kinderlogik besticht uns die Fähigkeit der Kinder, Dinge zusammen zusehen, die in Ewigkeit nicht zusammengehören. Mit dem Überraschungs-Schock wird auch eine gute Portion Wahrheit schlaglichtartig freigesetzt. Und die Wollust des Lachens bleibt nicht aus. Die Kleinscheuerner Faschingsnarren haben sich von der Kinderlogik ein gutes Stück abgeschnitten. Darum ist der Auftritt mit den „Reisepässen“ ohne Folgen geblieben. Genaugenommen war die Darbietung (eigentlich) politisch korrekt: Die Charta der Menschenrechte entschuldigt alles.
Walther Gottfried Seidner
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