„Ich schreibe, wie ich fühle“
11.03.22
Gespräch mit dem Schriftsteller Radu Tuculescu
„Wir erzählen von Begegnungen und beschreiben Personen, geben Dialoge wieder und entdecken an den unwahrscheinlichsten Stellen einen oder zwei Engel“, schreibt Radu Tuculescu in seinem Roman „Metzgerei Kennedy“ (S. 98). Dies kennzeichnet seine spielerische Art, sowohl mit dem eigenen Schreiben als auch mit den Lesern umzugehen, denen er explizit vollkommene Freiheit empfiehlt: „Jeder kann seine persönlichen Schlüsse ziehen, wenn er Lust dazu hat“ (ebd.). Der mehrfach preisgekrönte Romanautor, Dramatiker und Übersetzer (und vieles mehr) ist 1949 in Neumarkt am Miereschgeboren, wuchs in Sächsisch-Regen auf und absolvierte ein Violinstudium in Klausenburg. Schon früh und parallel zur Musik widmete er sich dem Schreiben. Er veröffentlichte zahlreiche Romane, u.a. „Ora paianjenului” (Albatros, 1984), „Degetele lui Marsias” (Dacia, 1985), „Povestirile mameibatrâne” (Cartea Româneasc?, 2006), „Stalin, cu sapa-nainte” (Cartea Româneasca, 2009, bzw. „Stalin, mit dem Spaten voran!”, Mitteldeutscher Verlag, 2018, Übersetzung von Peter Groth), „Mierla neagra” (Cartea Româneasca, 2015), „Macelaria Kennedy” (Cartea Româneasca, 2017, bzw. „Metzgerei Kennedy”, 2019, Verlag und Übersetzer wie oben). Sein Werk umfasst aber auch Theaterstücke (etwa „Ce dracu’ se întâmpla cu trenul asta?”, Eikon, 2004) sowie Lyrik- und Prosa-Übersetzungen aus der österreichischen Literatur und der zeitgenössischen deutschsprachigen Schweizer Literatur. Seine eigenen Werke wiederum wurden in Frankreich, Österreich, Italien, Tschechien, Ungarn, Serbien, Deutschland, den USA und Israel übersetzt. Radu Tuculescu sprach für die Karpatenrundschau mit der Journalistin Christine Chiriac.
Herr Tuculescu, zunächst eine unmittelbare Frage, die sich aus Ihrer Berufsbiografie ergibt: Welche Rolle spielt die Musik in ihrer schriftstellerischen Arbeit?
Ich habe siebzehn Jahre lang Geige gelernt – das waren zwölf Jahre in der Schule plus fünf Jahre am Konservatorium, wie das damals hieß. Als Radio Cluj 1985 aufgelöst wurde, trat ich dem Orchester der Klausenburger Philharmonie bei, wo ich bis 1990 arbeitete. Ich habe mich in keiner literarischen Gruppe engagiert, sondern war und blieb – wie ein Kritiker formulierte –, ein einsamer Wolf. Irgendwann „kooptierten“ mich Schriftsteller aus der sogenannten „1980er-Generation“ in ihre Kreise und … ich hatte nichts dagegen. Ich schätze viele Vertreter der „Generation“, bin mit manchen eng befreundet. Aber ich hatte und habe mein eigenes literarisches „Programm“ und komme eigentlich sehr gut auch ohne Gruppenzugehörigkeiten aus. Zudem interessiere ich mich eher wenig für Textualismus, Postmodernismus und andere „-ismen“. Die Regeln der Musik sind diejenigen, die freiwillig-unfreiwillig mein literarisches Schaffen geprägt haben: die Verschmelzung von Harmonien, die Rhythmuswechsel, die Leitmotive, die Haupt- und Nebenthemen im Dialog, die Polyphonie… Wie in der Musik ist auch in der Literatur das Thema formbestimmend. Vielleicht wiederhole ich mich in meinen Romanen deshalb nicht. Ich schreibe immer noch mit der Hand in Hefte, von denen sich bei mir zu Hause Dutzende türmen, und höre dabei stets Musik – vor allem klassischen Jazz, Blues, Soul. Der Jazz ist außerordentlich erfindungsreich, er gibt mir einen fantastischen schöpferischen Impuls, er geht mir ins Blut, er gleitet mir in die Fingerspitzen und ... lenkt meine schreibende Hand.
… Und welche Rolle spielt die Kochkunst?
Die Aromen köstlicher Gerichte und raffinierter Desserts vermischen sich in meinen Romanen häufig mit erotischen Szenen, die von Kritikern und Lesern – lassen Sie mich ein wenig angeben – als originell und sehr gelungen betrachtet werden. Im Roman „Mierla neagra“ wird die Gastronomie sogar zur Rachewaffe der Hauptfigur. Ich koche gerne und erfinde meine eigenen Rezepte, von denen ich manche sogar veröffentlicht habe. Kochen sorgt nicht nur für Entspannung nach vielen Schreibstunden, sondern bietet auch eine Gelegenheit zur Freude, die ich unmittelbar mit anderen teilen kann.
Sie haben deutschsprachige Literatur ins Rumänische übersetzt. Wie würden Sie die Erfahrung in diesem Bereich beschreiben?
Mit den Übersetzungen war es so: 1991 war ich der erste rumänische Stipendiat bei Schweizer Radio International in Bern. Ich habe dieses Stipendium insgesamt dreimal erhalten, dann ein weiteres Stipendium, das mir einen Arbeitsaufenthalt bei Radio Basel ermöglicht hat. Bis 2000 habe ich zudem Kreativstipendien des Regierungsrats des Kantons Basel-Stadt erhalten. Schon während des ersten Jahrs in der Schweiz habe ich dort einige wirklich begabte Schriftsteller kennengelernt. Außer Dürrenmatt und Frisch hatte ich bis dahin keine anderen deutschsprachigen Schweizer Schriftsteller gekannt. Und so fing ich fast aus Zufall an, ihre Texte zu übersetzen. Zunächst Lyrik – das war richtig harte Arbeit. Ich empfinde seither größten Respekt und Wertschätzung für die Übersetzer, diese wunderbaren „Anonymen“. Prosa war natürlich einfacher für mich. Insgesamt wurden es vierzehn Bände Lyrik und Prosa, alle erschienen im Verlag Revista Familia. Aber aus Zeitgründen habe ich damit aufgehört. Die Zeit läuft mir schneller davon, als mir lieb ist, und ich möchte sie meinem eigenen Schaffen widmen.
Sie haben also zahlreiche Gedichtbände aus dem Deutschen ins Rumänische übersetzt, veröffentlichen aber keine eigenen Gedichte. Wieso das?
Das stimmt nicht ganz. Ich habe mit Dichtung debütiert! Ich war in der neunten Klasse an der Klausenburger Musikschule, als eine Zeitschriftenseite mit Gedichten von mir im berühmten „Steaua“ veröffentlicht wurde. Da waren einige andere junge Leute mit ihren Erstlingswerken vertreten – diese Menschen sind inzwischen zu Referenznamen in unserer Lyrik geworden. Als ich meine Arbeiten veröffentlicht sah, geschah etwas Unerklärliches mit mir. Anstatt Freude, Mut, Zuversicht, einen Impuls zum Weitermachen zu verspüren, habe ich mir geschworen, nie wieder Lyrik zu schreiben. Und ich habe mein Versprechen gehalten. Nichtsdestotrotz gibt es in meiner Prosa auch poetische Seiten.
Wenn Sie die Musikerkarriere fortgesetzt hätten, wo und woran würden Sie jetzt gerne arbeiten?
Ich würde vermutlich immer noch im Orchester der Klausenburger Philharmonie – das ich für ein hervorragendes Ensemble halte – mitwirken wollen. Aber genauso gut könnte ich mir eine kleine Jazzband vorstellen. Und ich würde sehr gerne Bach-Partiten üben, denn Bachs Musik kann man wunderbar auch als Jazz uminterpretieren. Ich nenne als Beispiel nur die Auftritte des berühmten französischen Trios „Play Bach“.
Ihre Bücher wurden in verschiedene Sprachen übersetzt. Wie haben Literaturkritik und Publikum im Ausland auf Ihre Werke reagiert? Und wie würden Sie das Interesse der dortigen Öffentlichkeit an der rumänischen Literatur einschätzen?
Die Reaktionen waren positiv, in manchen Ländern sogar überraschend positiv. In Ungarn zum Beispiel wird der Roman „Povestirile mamei batrîne” in Masterarbeiten an der Universität Budapest behandelt, ebenso „Stalin, cu sapa-nainte”. Letzterer wurde auch ins Italienische übersetzt und steht auf Lektürelisten der Universität Kalabrien. In Deutschland hatten die beiden übersetzten Romane einige gute Kritiken, was bemerkenswert ist, wenn der Autor ein Unbekannter aus einem wenig bekannten Land wie Rumänien ist. In Israel hatte ich wunderbare Lesungen, bei denen Schüler und Studierende dabei waren, die meine Arbeiten analysiert haben. Aber lassen wir uns nicht täuschen, eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Die Auflagen der aus dem Rumänischen übersetzen Bücher sind gering, die Wirkung minimal. Der Staat müsste viel mehr in Übersetzungen investieren, um unsere Kultur im Ausland bekannt zu machen. Ich finde es recht einseitig, wenn ich in ausländischen Buchhandlungen stöbere und keinerlei Bücher rumänischer Autoren finde, dafür aber etliche polnische oder ungarische Schriftsteller vertreten sind.
Wenn Sie eine Entscheidung treffen könnten, die Rumänien grundlegend verändern würde, welches wäre diese Entscheidung?
Schwierige Frage. In zu vielen Bereichen wären zu viele Entscheidungen zu treffen. Wenn ich magische Kräfte hätte, würde ich das Land zuerst in einen anderen Teil der Welt verlegen! Dann würde ich es von allzu skrupellosen Strebern und von aggressiven Dummköpfen befreien. Die richten nämlich mehr Schaden aus als jede Pandemie.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft der rumänischen Kultur- und Literaturszene?
Ich wünsche ihr alles erdenklich Gute und ein langes Leben! Wir haben wertvolle Kulturschaffende. Vor allem Musiker und bildende Künstler können sich mit ihrer universellen Sprache sehr schnell auch international behaupten, was erfreulicherweise häufig der Fall ist. Aber in unserem Kulturbetrieb – nicht nur in der Politik – geht es oft um Cliquen, Beziehungen, Interessen. Es kommt zu einer dramatischen Werteverwirrung, die den Kulturkonsumenten langfristig desorientieren. Das finde ich sehr problematisch.
Als Grundschüler haben Sie einen ersten Abenteuerroman geschrieben. Inwieweit erkennen Sie in diesem Text die Merkmale Ihrer späteren literarischen Entwicklung?
Über diese Frage habe ich noch nie nachgedacht. Das Manuskript habe ich noch: Es ist ein unliniertes Heft, in das ich in der vierten Klasse mit Bleistift eine unsinnige Geschichte über Piraten, gefährliche Wälder, Schlägereien, Inseln, Hexen geschrieben habe. Was ich in diesem Text erkennen würde, ist eine Tendenz, die Welt als Theaterbühne zu sehen, als Aufführung. Meine Fantasie wurde schon sehr früh von den unterschiedlichsten literarischen Entdeckungen in der riesigen väterlichen Bibliothek angeregt. Dabei erwachte in mir eine Art Abenteurergeist, der mich auf Erkundungstouren im Gemüse- und Obstgarten meines Elternhauses begleitete, oder auch im „Runden Wald“ in Sächsisch-Regen, einem Ort voller mysteriöser Kreaturen und Geschichten, der sich hinter unserem Gartenzaun erstreckte. In diesem Heft erkennt man zudem die Freude am Erzählen und den Humor, den ich wohl von meiner Mutter habe. Sie war eine „einfache“ Frau, konnte aber faszinierende Geschichte erzählen und hatte ein ausgezeichnetes Gespür für alberne, absurde Situationen.
Vor sechzehn Jahren erschien der Roman „Povestirile mamei batrîne“, in dem Sie die Chronik des Todes eines siebenbürgischen Dorfs skizzieren. Auch in anderen Büchern haben Sie über Siebenbürgen geschrieben. Welche Zukunft prognostizieren Sie für Siebenbürgen?
Ach, wäre ich bloß ein Nostradamus! Ich habe den Roman geschrieben, nachdem ich fünf Jahre lang alles notiert hatte, was die Großmutter meiner Ex-Frau mir über ihr kleines Dorf erzählt hatte. Ein faszinierender Mensch. Sie hat ihr ganzes Leben lang in einem Dorf gelebt, das wie aus einem vergangenen Jahrhundert wirkte. Fast alle Figuren und Ereignisse im Roman sind der Wirklichkeit nachempfunden, in manchen Fällen habe ich sogar die richtigen Namen beibehalten. Ich habe viele dieser Menschen persönlich kennengelernt und durfte mich mit ihnen – meistens natürlich in der Dorfschenke – ausführlich unterhalten. Übrigens kommen Kneipen, Wirtshäuser, Bistros in allen meinen Büchern vor. Ich habe in diesem Dorf ein faszinierendes Universum entdeckt, das von Sinnlichkeit und Magie, Humor und Tragödie, Teufel und Gott gleichermaßen dominiert wurde. Und von Frauen! Das Bild, das sich mir nach und nach erschloss, war eine Kombination von unerbittlicher Realität, Traum und Hexerei. Ich weiß nicht, was die Zukunft für das siebenbürgische Dorf bereithält. Weder möchte ich apokalyptisch-skeptisch noch absurd-optimistisch sein. Vielleicht liegt die Zukunft irgendwo dazwischen. Das Traditionelle wird sicherlich verschwinden, aber vielleicht lebt das Dorf in einem neuen Gewand weiter. Ich bin jahrzehntelang als Radio- und dann als Fernsehjournalist durch Siebenbürgen gereist. Wir haben Dörfer kennengelernt, die dank engagierter Lokalverwaltungen und europäischer Gelder den Sprung in die Zukunft hinbekommen haben. Viele junge Menschen fühlen sich natürlich nicht besonders hingezogen zum ländlichen Leben, ich kenne aber auch solche, die äußerst aktiv und erfinderisch sind, und auf dem Land gut zurechtkommen. Trotzdem geht eine bestimmte Identität nach und nach verloren, es findet nach und nach eine Vereinheitlichung statt. Ich kann mich an Sächsisch-Regen erinnern, wie es in meiner Kindheit war: eine kleine, damals wirklich multikulturelle siebenbürgische Stadt. In meiner Straße haben wir beim Spielen mehrere Sprachen gleichzeitig gesprochen, und niemand hätte uns je auf die Idee bringen können, dass man sich um Kulturen, Sprachen und Identitäten streiten kann. Diese harmonische, selbstverständliche und wohltuende Multikulturalität ist verschwunden.
Als Student haben Sie unter anderem Pantomime-Ensembles gegründet und geleitet. Auf der Bühne zu stehen, ermöglicht einen sehr direkten Kontakt zum Publikum. Vermissen Sie als Schriftsteller diese Art der unmittelbaren Kommunikation?
Im ersten Studienjahr habe ich ein Theater- und Pantomime-Ensemble gegründet, das im Kulturhaus der Studenten angesiedelt war. Ich habe eigene Texte, aber auch Werke aus der Weltliteratur inszeniert. Später, als die Zensur verschärft wurde, nachdem Ceau?escu mit seiner kulturellen „Revolution“ nach chinesisch-koreanischem Modell anfing, wurde mein Theater verboten. Den ersten Theaterband habe ich deshalb erst nach 2000 veröffentlichen können. Aber die Pantomime-Gruppe blieb damals bestehen, denn sie kam ja ohne Worte aus. Für die Zensur war das das Wichtigste.
Hatten Sie weitere unangenehme Erfahrungen mit dem Regime vor 1989?
Es gäbe viel zu erzählen. Nach positiven Kritiken zu meinen Romanen „Ora paianjenului” und vor allem „Degetele lui Marsias” in ausländischen Medien wurde mir Auslandsreiseverbot erteilt, ich konnte an den Orchestertourneen nicht teilnehmen, es gab Hausdurchsuchungen, Verhöre und keinerlei Aussicht auf weitere Veröffentlichungen. Bis 1990 natürlich.
Sie verwenden in Ihren Büchern eine Vielzahl von Registern und Stilen. Fühlen Sie sich in einem von ihnen „zu Hause“?
Mein „Stil“, wenn Sie so wollen, ist ein musikalischer. In Erzählungen richte ich mich nach der Sonate, im Roman eher nach der Sinfonie. Aber ich wiederhole, ich habe mir nie ein „Rezept“ vorgenommen. Ich schreibe, wie ich fühle. Vielleicht klingt es trivial, aber so ist es nun mal. Ich schreibe so, wie meine Figuren mir ihre Geschichten erzählen, mit dem Wechsel zwischen Dur und Moll, zwischen Vivace und Andante cantabile, zwischen dissonant und konsonant.
Vielen Dank für das Gespräch!
Der Schriftsteller Radu Tuculescu in Basel, wo er jährlich einige Monate verbringt und viele seiner Romane verfasst hat. Foto: Olga Rubitschon.
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
Herausgeber: Demokratisches Forum der Deutschen im Kreis Kronstadt
Redaktion: 500.030 Braşov, Str. GH. Baiulescu 2,
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