„Ihre Interpretationen sind Gottesdienste an der Kunst…“
21.03.25
Kronstädter Musikerinnen (VI/2): Konzertsängerin und Gesangspädagogin Lula Mysz-Gmeiner (1876-1948)
Der zweite Teil von Folge VI der Dokumentation über Kronstädter Musikerinnen (Die Schwestern Gmeiner) ist der bedeutenden Konzertsängerin (Mezzosopran) und Gesangspädagogin Lula Mysz-Gmeiner (Taufnamen: Julie Sophie) gewidmet, zu deren namhaften Schülerinnen und Schülern u.a. die Opern- und Liedsängerin Elisabeth Schwarzkopf (1915-2006) gehört hat. Als Manna Copony 1943 ihren nun in der „Karpatenrundschau“ veröffentlichten Beitrag über die drei Musiker-Schwestern Gmeiner schrieb, stand Lula Mysz-Gmeiner in ihrem 67. Lebensjahr. Der Zweite Weltkrieg war auch für ihr persönliches Schicksal folgenreich. Nachdem 1944 ihr Berliner Haus zerbombt wurde, zog sie sich nach Schwerin zurück, wo sie ihre letzten Lebensjahre verbrachte. In neuerer Zeit wurde auf ihr Lebenswerk aufmerksam gemacht durch die Buchveröffentlichung „‘Lernen, Singen und Lehren.‘ Lula Mysz-Gmeiner (1876-1948), Mezzosopranistin und Gesangspädagogin“ von Raika Simone Maier (Neumünster 2017). Mit dieser Arbeit promovierte die Autorin, selbst aktive Konzertsängerin und Gesangspädagogin, im Jahr 2016 an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg.
„Wem Frau Lula Mysz-Gmeiner zum ersten Mal begegnet, auf den wirkt sie wie eine Offenbarung – wer diese unvergleichliche Künstlerin schon früher genießen konnte, dem ist sie auch heute ein schier unbegreifliches hohes Wunder.“ Dies sagt im Jahre 1930 ein Kritiker über die zweite Schwester, Lula Mysz-Gmeiner.
Wer dieses „Wunder“ näher kennt, errät sein Geheimnis, und nichts scheint unbegreiflich. Denn diese schöne Frau trägt auf ihrer Stirn das Wahrzeichen des „Glückskindes“. Ihr Leben ist gewachsen wie ein großer Baum. Er nimmt die Gaben von Sonne, Licht und tiefem Erdboden in sich auf und schenkt sie blühend und Früchte tragend weiter, an jeden, der in seinem Schatten lagern mag… Wer hörte von Lula Gmeiner Schumanns „Nussbaum“ singen und wer vergaß es je? Sie sang ihn als zartes Mädchen, sie sang ihn als junge Frau und sie singt ihn noch heute, als Großmutter. Immer gleich und immer neu – wie die Blätter des Nussbaumes, die uns in jedem Frühling von neuem entzücken.
Lulas Schicksal ist ihr „erwachsen“, wie es schöner und harmonischer keinem Glücklichen erwachsen kann. Töricht der, welcher glaubt, das Blühen des Glücksbegabten sei ein Geschenk von „außen“! Es ist Folgerichtigkeit innerer Richtigkeit. Unter einem guten Stern geboren sein, ist auch ein Talent, und mit Gottes Gaben so wirtschaften können, dass sie zu seinem Lobpreis reifen, ist das Geheimnis vom Menschen, wie Lula Gmeiner einer ist. Menschen, die ihre inneren Kämpfe und Krisen nicht nach außen tragen und die der Welt wohltuende Ausgeglichenheit entgegen zu halten vermögen, auch dort, wo das Leben Härte bietet und Konflikte, die persönlichstes Geheimnis bleiben. Denn kampflos ist natürlich auch Lula Mysz-Gmeiner nicht geworden, was sie heute ist! Bei Gustav Walter (1), Etelka Gerster, Lili Lehmann (2) hat sie studiert und in reifen Jahren, auf der Höhe des Ruhmes stehend, noch bei dem Meister Raimund von Zur Mühlen (3). Sie konnten sie schulen und anregen, aber nicht bilden. Zur Bildung ihres künstlerischen Wesens war stets ihre eigene innere Stimme am Werk, eine Stimme, die nie aufgehört hat, ihr den echtesten Ausdruck der Kunst von tiefinnersther zu weisen. So ward Lula Mysz-Gmeiner die „Meisterin des Liedes“, von der der Kritiker, zum Bewunderer geworden, schreibt: „Ihre Interpretationen sind Gottesdienste an der Kunst, beredtes Zeugnis einer aussterbenden Vortragskunst…“
Neben ihr, in umwandelbarer Treue, nicht nur zur Frau, sondern auch zu ihrer Kunst, steht ein Menschenalter lang, helfend, ratend und sorgend der Gatte und Vetter Dr. Ernst Mysz (4). Lula hatte als zehnjähriges Mädchen schon dem jungen Marineoffizier ihr Herz versprochen. Er aber, die Bestimmung dieser Frau erkennend, hat noch als erwachsener Mann zum bürgerlichen Beruf des Diplom-Ingenieurs umstudiert. Er verzichtete auf eigene Karriere und gab die Seefahrten zu Gunsten von Lulas Konzertfahrten auf. Bewundert und gefeiert reiste sie nun fast 40 Jahre lang durch Europa, widerstandsfähig und humorbegabt, wie selten eine Frau, und doch neben dem Glück des Schenkens die tiefe Einsamkeit des Künstlers im Herzen tragend. Was wissen die Leute von dem Alleinsein in fremden Hotels, auf Eisenbahnen, im Künstlerzimmer ungekannter Städte und am Gasttisch fremder, höflicher Menschen? Das Jahr 1926 führte sie über den Ozean, wo man in New York aufhorchte bei dem ungewohnten Klang dieser so sehr „europäischen Sangesart“. In London und Berlin, in Paris und in Petersburg, in Rom und in Bukarest war Lula Mysz-Gmeiner gefeiert. Sie musizierte mit Brahms, Reger, Strauss (5), Joachim (6) und vielen anderen. Sie entdeckte Hugo Wolf und hat es als junger Stern gewagt, sich für den größeren Stern dieses unglücklichen Genies einzusetzen - durchzusetzen! Sie wurde als Hugo-Wolf-Interpretin fast so bekannt wie als Schuberts Priesterin, dessen Lieder wohl kaum je von einem anderen Künstler so häufig, so schön und so schubertecht dargebracht worden sind. Das Dritte Reich erteilte Frau Prof. Lula Mysz-Gmeiner vor einigen Jahren den ehrenvollen Auftrag, eine Neuauflage der schubertschen Lieder, mit den von ihr als richtig erkannten musikalischen und Vortragszeichen, herauszugeben. Diese Aufgabe, in die betreuenden Hände einer Künstlerin gelegt, sagt mehr aus über ihre Bedeutung für Volk und Kultur als jede sichtbare Auszeichnung, an denen es Lula Mysz-Gmeiner ein Leben lang nie gefehlt hat. Vom alten Kaiser Franz Josef wurde die junge Sängerin zur k. u. k. Kammersängerin ernannt, Carmen Sylva ehrte sie durch Orden, Geschenke und persönliche Zuneigung, eine ganze Reihe europäischer Größen schenkte ihr Freundschaft und Interesse. Die lebenslängliche Anstellung als Professor an der staatlichen Musik-Hochschule in Berlin endlich sichert materielle und ideelle Güter zugleich. Von diesem wohlverdienten Port aus lässt Lula Gmeiner, eine neue Sängergeneration mütterlich führend, Einblick tun in die Geheimnisse ihrer hohen Kunst. Zu dieser jungen, von ihr beeinflussten Nachfolge gehört vor allem auch der Gatte ihrer einzigen Tochter, der gefeierte Operntenor Peter Anders (7). In diesem Sohn erlebt die verwöhnte Frau zum zweiten Mal Freude, Unruhe und Genugtuung eines ungewöhnlichen Aufstieges; im Haus ihrer Kinder strömt noch einmal alles Glück künstlerischer und menschlicher Erfüllung zusammen.
Die neue Zeit hat neue „Tempi“ vorgeschrieben, die Palme des deutschen Liedgesanges aber hat Lula Mysz-Gmeiner noch kein Junger streitig gemacht. Sollte die Zeit des Liedes vorüber sein? Oder sollte Lula Mysz-Gmeiner einzig in ihrer Art bleiben?
1943
Ma.Co.
(Vorspann, redaktionelle Bearbeitung und Anmerkungen:
Wolfgang Wittstock)
Anmerkungen:
(1) Gustav Walter (1834-1910) war ein österreichischer Opernsänger (lyrischer Tenor), Liedsänger und Gesangslehrer.
(2) Lili Lehmann (1848-1929) war eine deutsche Opernsängerin (Sopran) und Gesangspädagogin.
(3) Raimund von Zur Mühlen (1854-1931), deutscher Sänger (Tenor) und Gesangslehrer, gilt als Begründer der eigenständigen Konzertgattung Liederabend; 1907 übersiedelte er nach England (Wohnsitze in London und Steyning).
(4) Dr.-Ing. Ernst Albert Mysz (1871-1948) und Julie Sophie („Lula“) Gmeiner hatten im Jahr 1900 in Kronstadt geheiratet.
(5) Richard Strauss (1864-1949), einer der bedeutendsten deutschen Komponisten und Dirigenten, gastierte 1921 in Kronstadt: Mit Kammersänger Franz Steiner gab er einen Liederabend mit eigenen Kompositionen; als Dirigent führte er mit dem Orchester der Kronstädter Philharmonischen Gesellschaft Beethovens V. Sinfonie auf.
(6) Joseph Joachim (1831-1907) war ein österreichisch-ungarischer Violinist, Dirigent und Komponist; er galt als einer der bedeutendsten Violinkünstler seiner Zeit.
(7) Peter Anders (1908-1954), deutscher Opernsänger (Tenor), war mit der Sopranistin Susanne Mysz (1909-1979) verheiratet. Der Ehe entstammen die Oratorien- und Liedsängerin (Sopran) Ursula Anders (geb. 1938), der Konzert- und Oratoriensänger (Tenor) Peter Laurent Anders (geb. 1941) und die Chansonsängerin und Schauspielerin Sylvia Anders (geb. 1943).
Konzertsängerin Lula Mysz-Gmeiner (Ansichtskarte, abgeschickt von der Sängerin aus London, Postamt Kensington, an Frl. Julie Giesel in Kronstadt, aufgrund der Frankierung vermutlich etwa 1911/12)
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