„In den schweren Zeiten lernt man fürs Leben, nicht in den glücklichen“
05.08.22
Sofia Folberth aus Deutsch-Kreuz feierte ihren 100. Geburtstag
Es war ein Titel in einem englischsprachigen Magazin, der uns Anfang Juli neugierig machte: „Rumäniens älteste Siebenbürger Sächsin feiert ihren 100. Geburtstag mit Stil“. Im Artikel ging es um Sofia Folberth aus Deutsch-Kreuz, die als Geschenk ein Kronenfest bekam, einen Vortrag in der Kirche hielt und 150 Gäste zu ihrer Jahrhundertfeier begrüßte. Ein paar Fotos zeigten eine rüstige weißhaarige Frau in Tracht, die aufrecht in der Kirchenbank sitzt, auf Gruppenfotos lächelt, mit einem Glas Wein anstößt. Sie scheint höchstens 80 Jahre alt zu sein. Dann sehen wir die vielen Facebook-Einträge über Sofia Folberth und noch mehr Zeitungsartikel erscheinen in den nächsten Tagen: in der Siebenbürgischen Zeitung, in der Hermannstädter Zeitung, in der rumänischen Presse. Unbedingt wollen wir die alte Dame auch kennenlernen.
Ein bewegtes Leben
Wir finden heraus, dass sie seit drei Jahren im Altenheim der Evangelischen Kirche A. B. in Rumänien in Schweischer lebt. „Wir erwarten Sie am Vormittag, dann ist es nicht so heiß und Sie können sich draußen im Freien unterhalten“, sagt uns eine Mitarbeiterin am Telefon. Um 11 Uhr vormittags parken wir in Schweischer vor dem Altenheim und ich spreche mich mit meiner Kollegin Laura ab. Sie wird Sofia Folberth filmen, zusammen werden wir Fragen stellen. Es ist genau eine Stunde vor dem Mittagessen, als wir anfangen, und wir sind sicher, dass das Gespräch nicht länger als eine Stunde dauern wird. Wir gehen davon aus, dass es für Frau Folberth sicher anstrengend sein wird. Zwei Stunden nach Beginn des Interviews erzählt sie noch immer ganz lebhaft. Sie erzählt von ihrer glücklichen Kindheit in Deutsch-Kreuz und von der ersten Liebe. Sie erzählt von den Wirren des zweiten Weltkrieges, die sie 1944 nach Deutschland brachten, wo sie im April 1945 ihre einzige Tochter gebar. Den Vater des Kindes, ein deutscher Leutnant, hat sie danach nur ein oder zwei Mal getroffen. Sie erzählt von ihrer Zeit in einem Flüchtlingslager aus Passau und über die Rückkehr nach Rumänien, wo sich inzwischen alles verändert hatte. Sie erzählt mit Tränen in den Augen vom Moment, in dem sie ihre Eltern im Hof ihres Hauses aus Deutsch-Kreuz wiedersieht. Sie hatten anderthalb Jahre nicht gewusst, ob sie noch am Leben ist. Sie erzählt davon, wie sie jahrelang in der lokalen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (CAP) gearbeitet und ihre Tochter allein großgezogen hat. Später ist diese nach Deutschland ausgewandert. „In den schweren Zeiten lernt man fürs Leben, nicht in den glücklichen“, meint Sofia Folberth.
Verantwortung für das Erbe der Vorfahren
1990 wanderte auch sie nach Deutschland aus. Jahrelang hat sie in einem Haus in Regensburg gelebt, in der Nähe ihrer Tochter, ihrer fünf Enkel und ihrer Urenkel. Als sie vom Verfall des alten Pfarrhauses in ihrem Heimatdorf hörte beschloss sie, das Gebäude zu retten. Sie hat es immer als Verantwortung betrachtet, das Erbe ihrer Vorfahren zu bewahren und deshalb kehrte sie jeden Frühling mit dem Reisebus in ihr Heimatdorf zurück. Sie überwachte die Reparaturen an Kirchenburg und Pfarrhaus, für die die Heimatortsgemeinschaft in Deutschland Geld gesammelt hatte, bemühte sich zur selben Zeit um die Instandhaltung der Kirche und führte gelegentlich Touristen durch die Wehranlagen. Sie bemühte sich, die Geschichte des Dorfes aus den Archiven wieder herzustellen und allen bekannt zu machen. Bei den Führungen unterstrich sie immer, dass in Deutsch-Kreuz vor mehr als 400 Jahren das erste siebenbürgische Dorfschulrecht erlassen wurde und erzählte von den Bräuchen der Dorfbewohner von einst.
Inzwischen ist der Traum von Sofia Folberth wahr geworden: in das Dorf ist wieder Leben eingekehrt. Die Kirchenburg wurde restauriert, es finden Orgelkonzerte statt, alte Häuser, die dem Verfall nahe standen, wurden in Pensionen oder Ferienhäuser umgewandelt, Traditionen wurden erneut ins Leben gerufen, Touristen aus dem In- und Ausland entdecken die Schönheit dieser Gegend und erfahren mehr über deren Geschichte. Und manchmal im Sommer ist die Kirche so voll wie vor mehreren Jahrzehnten, als im Dorf noch viele Siebenbürger Sachsen wohnten. Doch Sofia Folberth weiß, dass ihre Aufgabe noch lange nicht zu Ende ist und setzt sich weiterhin dafür ein, ihr Dorf zu erhalten. Im Herbst 2019 kehrte sie nicht mehr nach Deutschland zurück, sondern zog ins Altenheim Schweischer, nur 12 Kilometer von Deutsch-Kreuz entfernt. Alle ihre Erinnerungen hat sie aufgeschrieben. „Wenn du schreibst, erinnerst du dich. Was nicht geschrieben ist, ist nicht geschehen“.
„Sie hat mehr Energie als wir alle zusammen“
Sofia hätte gerne noch weiter erzählt, doch am Ende sind wir diejenigen, die erschöpft sind. Die Hundertjährige scheint sich auch nicht Sorgen darüber zu machen, dass sie wegen dem Interview das Mittagessen verpasst hat. „Wenn Sofia bei Tisch nicht dabei ist, ist niemand dabei. Sie hat mehr Energie als wir alle zusammen“, scherzt eine Pflegerin. Sofia Folberth verabschiedet sich von uns mit einem festen Händedruck und sagt: „Kommen Sie noch vorbei“. Wir kennen 30jährige, die keine derartige Energie und Lebenslust haben. Als wir uns die Aufnahme anhören, merken wir, dass auch ihre Stimme jung klingt.
Das Alter ist nur eine Nummer - dieser Spruch, der schon zum Klischee geworden ist, beweist sich wieder einmal als sehr wahr. Im Fall von Sofia Folberth ist es schon eine dreistellige Zahl. Doch trotz des hohen Alters leuchten ihre Augen. Das Geheimnis, das hinter diesem ganz besonderen Glanz steckt, ist wohl die Leidenschaft, mit der sie sich seit Jahren ihrem Heimatort Deutsch-Kreuz widmet, dem Dorf, wo sie am 29. Juni 1922 geboren wurde. Ihr Leben steht im Dienste der Gemeinschaft.
In den zwei Stunden, die wir miteinander verbracht haben, haben wir gelernt, dass ein langes und erfülltes Leben nicht ein sorgenfreies Leben ist, sondern ein Leben in dem man dauernd mit leuchtenden Augen ein Ziel verfolgt, und nie seine Träume aufgibt, auch wenn manches unmöglich scheint. Wir wünschen Sofia Folberth, dass ihre Augen diesen ganz besonderen Glanz nie verlieren.
Elise Wilk
Im Gottesdienst zum Anlass des 100jährigen Geburtstags. Foto: Facebook „M&V Schmidt Stiftung”
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
Herausgeber: Demokratisches Forum der Deutschen im Kreis Kronstadt
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