INGMAR BRANTSCH
13.08.09
Sieben Jahre Mexiko
Das war mein Mexiko (im sächsischen Volksmund Bezeichnung für den Kronstädter Stadtteil Bartholomä – Anm.d.Red). Sieben Jahre lang mein Arbeitsbereich, die Stätte meines Wirkens und des Einwirkens der Mexikaner - besonders der kleinen Mexikaner - auf mich. Kein Atlantik trennte die Schwarze Kirche in Kronstadt, in deren Schatten wortwörtlich mein Vaterhaus stand, davon. Dazu lag mein Vaterhaus auch noch westlich von ihr, denn ich konnte die aufgehende Sonne aus dem Schlafzimmer, in dem meine Mutter, meine beiden Schwestern und ich die Nächte verbrachten, sehen. Gleichzeitig konnte ich auch über den Tiefsinn der Worte Paul Claudels nachsinnen, beim letzten gotischen Dom im Osten - und das war ja nun die Schwarze Kirche in Kronstadt im Karpatenbogen - höre das Abendland auf und es beginne das Morgenland. Wenn ich tagsüber aus meinem Vaterhaus zur Schule aufbrach, bog ich erst links um die Ecke und stand dem Haupteingang der Schwarzen Kirche gegenüber. Daran ging ich vorbei und kam auf den Rossmarkt, die Gheorghe-Bari]iu-Straße, nach einem rumänischen Publizisten und neuerdings Nationalhelden benannt. Die lief ich nun rechts runter, von der Schwarzen Kirche weg in den Osten hinein zum Rathausplatz, mit dem alten Rathaus, dem 23.-August-Platz, benannt nach dem neuen Nationalfeiertag, als der rumänische Hohenzollernkonig Michael von Sigmaringen mit der Kommunistischen Partei zur Anti-Hitler-Koalition überwechselte. Den alten Rathausplatz auf der linken Seite weiter entlang laufend, gelangte ich in die Klostergasse, die jetzt 7.-November- Straße hieß, nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution 1917 benannt. Am Ende der Straße links befanden sich die katholische Kirche, das ehemalige Kloster und gegenüber die „Cartea Rus²", die Buchhandlung „Russisches Buch", obwohl in Rumänien kaum einer freiwillig Russisch las.
Lief ich dann linker Hand weiter, kam ich aus der 7.-November Straße heraus, am Haus der Armee, einem Riesengebäude, entlang, und kam beim Kino „Maxim Gorki" an, benannt nach dem Vater des Sozialistischen Realismus. Beim Kino begann die Langgasse, der Boulevard Woroschilow, benannt nach dem Verteidigungsminister der Sowjetunion unter Stalin. Lief ich nun die lange Langgasse entlang, kam ich zunächst links an der Martinsberger rumänisch-deutschen Schule vorbei und dann, nach gut einem Kilometer links, endlich auch zu unserer Schule, der Allgemeinschule Nr. 14 in Bartholomä-Mexiko. Ein Nebengebäude befand sich etwas oberhalb rechts in einer Seitenstraße, der Kirow-Gasse, benannt nach dem Parteisekretär von Leningrad, dessen Ermordung 1936 die großen stalinistischen Säuberungen ausgelöst hatte.
So lief ich sieben Jahre fast tagtäglich aus dem Abendland Paul Claudels in das Morgenland des großen Bruders. Wollte Werner C. (ein Schüler des Autors – A.d.Red.) den umgekehrten Weg gehen, hatte er deshalb seinem Roman „Und der Lord kam in Texas an" diesen Westdrive verpasst? Hatte ich „komischer Mensch" noch immer nicht begriffen, dass in einer Stadt wie Kronstadt, die zehn Jahre lang, von 1950 bis 1960, den Namen Stalinstadt trug - weil in jedem Ostblockland eine Stadt nach dem großen Führer zu heißen hatte -, die Sehnsüchte auch ihrer jüngsten Einwohner wieder einen neuen Weg - über den Westen, ganz um die Erde herum - ins Morgenland suchten? Gewissermaßen hatte unser Wemer C. einen Westöstlichen Diwan in Prosa geschrieben, ohne dass wir dies so richtig geahnt hatten. Es war aber leider nicht das einzige, was wir nicht ahnen konnten, denn ohne zu wissen, was man hat, muss man es auch verlieren können. Spät erst im Westen Deutschlands dämmerte es mir: Mein Mexiko - mein für immer verloren gegangenes, unvorstellbar buntes und abenteuerliches Mexiko - konnte nur in den Karpaten liegen, in Kronstadt, der „Stadt unter der Zinne", wie man sie später in der deutschsprachigen Presse Rumäniens umschrieb - als Ceau{escu in den siebziger Jahren die deutschen Ortsnamen verbot. Mein Mexiko unter der Zinne, östlich gleich hinter der Schwarzen Kirche, am unteren Ende des Woroschilow-Boulevards, konnte es nur damals und dort geben. Seit ich dies hier und heute weiß, grüßt es noch im Traum mein Blick, wie dies ein siebenbürgisch-sächsischer Dichter schon im vorigen Jahrhundert besang: „Vom Dorf, in dem ich geboren, trug weit mich das Geschick. Das Dorf, das ich verloren, grüßt noch im Traum mein Blick."
(aus dem Band „Ich war kein Dissident“, Pop-Verlag, Ludwigsburg, 2009)
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
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Redaktuere:Ralf Sudrigian, Hans Butmaloiu, Christine Chiriac (Redakteurin, 2009-2014), Dieter Drotleff (Redaktionsleiter 1989 - 2007)
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