Kunstgarten
26.08.10
Impressionen am Rande einer Lesung/ Von Carmen Elisabeth Puchianu
Für Irmi und Reinfrid
Immer schon hat mich der Gedanke an eine Lesung im Freien gereizt. Auf einer Freilichtbühne im Rampenlicht zu sitzen, sozusagen in den grenzenlosen Zuschauerraum hinein zu lesen, allein auf den Text konzentriert, auf das mimische und gestische Spiel, um dem Vorgetragenen die zusätzliche Wirkung zu verleihen, einem Publikum gegenüber, das sich als unsichtbare Immanenz hinter grellem Scheinwerferlicht verborgen hält und mit angehaltenem Atem und weit aufgerissenen Augen der Lesedarbietung folgt – so meine Hoffnung, so meine Vorstellung.
Mitten in Winters Kälte erhalte ich eine Anfrage, ob ich nicht Lust hätte, irgendwann eine Lesung in Graz zu halten. In einem Kunstgarten. Auf einer kleinen aber feinen Freilichtbühne in blumenumkränzter Umgebung. Solches geht verständlicher Weise nur in warmer Jahreszeit, ich sollte mir das alles mal überlegen und wenn ich Lust hätte... Selbstverständlich habe ich Lust und ohne lange zu zögern, sage ich zu, nehme die Aufforderung gern an, mache Terminvorschläge und kündige sicherheitshalber schon mal an, ich würde Gebundenes und Ungebundenes lesen, eine Kollage eben zum Thema Schreiben in Kronstadt – das klingt nicht nur, als wäre Kronstadt für mich sozusagen mehr als nur eine Stadt, mehr als ein Ort zum Wohnen und zum Leben, das bedeutet genau genommen, dass diese Stadt mir eine Werkstatt ist, darin zu schreiben ich es mir habe lange schon angedeihen lassen.
Der Lesetermin wurde bereits Anfang des Jahres für den 7. August festgelegt, so dass ich beinahe ein gutes Dreivierteljahr Zeit habe mich darauf vorzubereiten. Aber keine Zeit der Welt hätte mir je gereicht mich darauf vorzubereiten, was mich in Graz in der Payer-Weyprecht Straße, auf dem rechten Ufer der Mur, erwarten sollte. Und wenn ich das schreibe, tue ich das vollkommen unironisch, ganz ernst viel mehr und mit aufrichtiger Freude und ebensolchem Wohlwollen.
Nach Graz reise ich gewohnheitsmäßig mit der Bahn. Die Reise geht über Wien, wo ich morgens kurz vor 10 am 6. August eintreffe und wo ich umsteigen werde. Die Fahrt bis Graz dauert dann nur noch zwei ein halb Stunden und sie führt mich durch eine Landschaft, die mich an siebenbürgische Gefilde erinnert. Das Steiermärkische scheint Transsylvanisches vorwegzunehmen sozusagen, wie etwa ein älteres Geschwister Gesichts- und Charakterzüge eines jüngeren, später Geborenen vorwegzunehmen pflegt. Schon im Zug weiß ich, dass ich mich hier wohl fühlen werde.
Auf dem Grazer Bahnhof werde ich erwartet, das weiß ich. Ich weiß nur nicht, ob die Dame oder der Herr des Hauses auf mich warten wird. „Frau Professor Puchianu...“ höre ich plötzlich jemand sagen. Er spricht bedächtig, indem jeder Vokal besonders in die Länge gezogen und betont wird. Es handelt sich um einen eher zierlichen und doch keineswegs schmächtigen Mann, der mich eben angesprochen hat. Er trägt ein schwarzes T-Shirt und ebensolche Jeans, das ergraute Haar trägt er im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden. Eine runde Hornbrille sitzt auf seiner Nase.
Er lächelt und heißt mich willkommen in Graz. Noch nie habe ich ein so langes a ausgesprochen gehört. Ich mag es, das und den wunderbaren Singsang seiner bedächtigen Redeweise, darin sich die Gemütsruhe sämtlicher Österreicher zu einem ganz persönlichen Markenzeichen zusammengetan zu haben scheint. Es ist Reinfrid Horn, der Inhaber des Kunstgartens.
Die kurze Autofahrt durch die Grazer Innenstadt immer an der Mur entlang offenbart mir eine Stadt, die der meinen in vielem ähnlich sieht. So etwas wie eine Schwesterstadt, denke ich, nur dass meine Stadt keinen Fluss aufzuweisen hat. Schade eigentlich. Immerhin gibt es auch hier einen Schlossberg mitten in der Stadt mit altem Mauerwerk und einem Uhrturm und mit einem wunderbaren Ausblick auf das Dächerlabyrinth der Stadt. Als stünde man auf der Warthe oder gar auf der Zinne in K., denke ich.
Wir erreichen die Payer-Weyprecht Straße. Segelartige Kunstinstallationen ragen rechts und links über die Fahrbahn aus wunderlich wucherndem Grün: dahinter der Kunstgarten. Reinfrid öffnet ein knarrendes Lattentor und wir betreten einen Vorhof, oder viel mehr eine kleine überwachsene Galerie. Auf jeder Seite gibt es eine Sitzgelegenheit: eine kleine Gartenbank rechts und einen Korbsessel links. Auf beiden ruht je ein Katzentier: rechts eine schüsselgroße graue Katzendame, links ein in der Größe beinahe ebenbürtiger weißer Kater mit schwarzer Mütze um die Ohren.
Und dann sehe ich sie: die Dame des Hauses. Sie kommt eilenden Schrittes auf mich zu, hat beide Arme weit ausgebreitet und blickt mir lächelnd, nein, lachend entgegen. Sie hält wenige Schritte vor mir kurz inne, dann steht sie schon dicht vor mir und umarmt mich, wie man jemand umarmt, auf den man sein ganzes Leben gewartet hat. Ohne ein Wort sagen zu können, lasse ich mich in die Großherzigkeit dieser Umarmung fallen.
Irmi Horn – so heißt meine Gastgeberin – beeindruckt mich durch ihre fesche Haltung und das schelmische Glimmen in ihren dunkeln Augen. Sie spricht viel schneller als Reinfrid, auch dehnt sie die Vokale nicht wie er. Trotzdem strahlt auch sie Gemütsruhe aus und Heiterkeit, sehr viel Heiterkeit. An diesem Tag trägt sie ein eng anliegendes Kleid und ihre Haare hat auch sie im Nacken in einen Knoten gefasst.
Ich werde ins Haus geleitet. Das Haus erinnert mich an ein merkwürdiges Schneckengehäuse, an eine labyrinthische Konstruktion, darin sich enge Treppenaufgänge und geräumige Zimmer einander auf unerwartete Weise abwechseln. Die Grundausstattung sämtlicher Räume besteht aus Bücherregalen, darauf die entsprechenden Bücher gestapelt sind. Alle Wände sind voll davon. Bilder – überaus interessante Graphiken, Fotografien und Fotokollagen, sowie Ölgemälde – hängen über den Büchern oder lehnen an Treppenaufgängen, Geländern oder in Wandnischen. Woran erinnert mich das alles? Wieso geht mir der Anblick von all dem so nahe? Noch weiß ich es nicht.
Nachdem mein Gepäck in einem Zimmer der oberen Etage abgestellt und mir die Räumlichkeit erläutert wurde, darf ich in den Garten hinunter.
Der Garten liegt gleich hinter dem Haus. Ein wundersames Beieinander von Blumen, Rankenwerk sowie einigen Obstbäumen und den unterschiedlichsten Kunstinstallationen, die mit Bedacht und künstlerischer Meisterhaftigkeit den natürlichen Gegebenheiten angepasst wurden, verdient den Namen KUNSTGARTEN in jedem Fall. Ich sehe Rosen mit altfranzösischen Namen und von königlicher Herkunft, wie mir Irmi versichert, und ich sehe sonnengelbe Gladiolen mit kleinen roten Mündern mir entgegenlächeln, ich sehe einen kleinen Menschenkopf aus einem Porzellanhäuschen hervorschauen und ich sehe ganz gewöhnliche Holzkisten, die zu einer symbolischen Mauer aufgerichtet worden sind, die statt zu trennen, den Weg frei gibt in diesen Garten, darin Kunst und Leben so sehr in einander verflochten sind, dass man nicht weiß, ob man noch in der Wirklichkeit oder schon in der Fiktion lebt.
Dann werde ich zu Tisch gebeten. Man isst wie man es üblicher Weise mit guten Freunden tut: auf einem einfachen Holztisch gleich hinter dem Haus unter einem riesig verzweigten Kirschbaum mit Blick auf die kleine Bühnenfläche unter der abfallenden Terrasse. Der äußere Rand der Bühne besteht aus einer halbkreisförmigen Steinbank. Wie die Miniatur eines griechischen Amphitheaters oder einer Zirkusarena. Zwei Planen überdachen Terrasse und Bühnenfläche, so dass man auch bei weniger starkem Regen dort sitzen kann. Ich bin sprachlos vor Begeisterung beim Gedanken am nächsten Abend dort lesen zu dürfen!
Wir essen köstliche Pfifferlinge mit Faschiertem und Reis. Irmi ist eine hervorragende Köchin und ich lass es mir schmecken. Beim Essen wird mir die Geschichte der drei Katzen des Hauses zum Besten gegeben. Nichts könnte mich mehr erfreuen.
Wie alle Katzengeschichten beginnt auch diese mit der hochherrschaftlichen Herkunft der Katzentiere: Die Älteste, die dunkelgraue Zarin, heißt Nimue und sie kommt aus Grado, wo sie als verunfalltes Katzenbaby gefunden worden war. Nimue hieß die Nymphen-Freundin von Merlin, werde ich von Irmi belehrt, just als eine schlanke, hochbeinige, noch sehr junge Katze schnurrend neben mich auf die Bank springt. Die Katze hat ein sehr helles Fell, nicht weiß, nicht grau, eher von der Farbe des Perlmutt mit einem silbergrauen Streifen, der von den beiden Ohrspitzen auszugehen scheint und sich im Nacken des Tieres dann zu einer kontinuierlichen Linie zusammen tut, die über die Mitte des Rückens bis zur Schwanzspitze verläuft. Das sei Clea, eigentlich Cleopatra, ein sonderbarer Mischling, die Nachfahrin eines echten Abessinier Katers, der allerdings als ebenso echter Lebemann vor dem Herrn eine Burmilla Katzendame geschwängert hatte – Burmilla, wird mir in Klammern erklärt, ist ihrerseits eine Mischung aus Burma und Chinchilla Perser -. Kurzum, das Ergebnis dieses amourösen Fehltritts ist Cleopatra – Clea, eine unumstrittene Prinzessin halt. Der dritte im Katzenbund ist der weiße Minzo mit der schwarzen Mütze und einem ebensolchen Schwanz, dessen Ende allerdings ein weißer Punkt, eine neckische Puschel ziert.
Am späten Nachmittag treffen gute Freunde aus Passau und noch später abends welche aus Königsbrunn ein. Sie werden meiner Lesung beiwohnen und vorher werden wir gemeinsam die Stadt erkunden, die manchmal Kronstadt zum Verwechseln ähnlich sieht. Ich freu mich über das Wiedersehen und darauf, dass mir so Vertraute während der Lesung zuhören werden.
Der Lesungstag lässt sich gut an, das Wetter ist wie geschaffen für eine Stadtbesichtigung. Am Nachmittag jedoch setzt der Regen ein, es waschelt und waschelt, wie Irmi sagt und mir wird bald klar, dass aus meiner Lesung auf der kleinen Freilichtbühne nichts werden kann. Die Veranstaltung wird ins Wohnzimmer der Horns verlagert. Inmitten von Büchern, Bildern und allerhand Kunstobjekten, darunter einige schwebende Engelsköpfe, werde ich in einem bequemen Sessel sitzend und von einer Tischlampe angestrahlt lesen. Wenige Minuten vor Beginn der Lesung weiß ich auch, aus welchem Prosatext ich lesen werde: aus der Geschichte „Fräulein Hanna“. Denn mittlerweile ist mir klar geworden, woran mich der Kunstgarten und das wundersame Haus der Horns die ganze Zeit über erinnern. Und während ich nun vor einem dem unaufhörlichen Regen zum Trotz doch recht zahlreichen Publikum lese, versinkt der mit Menschen, Büchern, Bildern und Kunstgegenständen gefüllte Raum vor mir allmählich in geheimnisvolle Schatten, daraus sich eine Geschichte zuträgt, Gestalt annimmt und eine Wirklichkeit für sich erstehen lässt.
„Deine Sprache“, sagt Irmi nach der Lesung, „atmet wie das Bandoneon. Zwischendurch in der Musik, in deinem Fall der Sprache, hörst du den Atem des Lebendigen, das weiterleben kann und will.“ Danach trinken wir zusammen niederösterreichischen Rotwein und erzählen einander die skurrilsten Geschichten bis tief in die Nacht hinein. Irmi erzählt mit lebhaftem Mimenspiel und großen Gesten, sie fährt sich immer wieder über das Haar, bis sich ihr Haarknoten allmählich zu lösen beginnt.
Zum Abschied lasse ich mich erneut in Irmis allumfassende Umarmung fallen, als fiele ich in die Güte und weite des Meeres oder in die Tiefe jenes Elfenbeinturms, darin die Kunst lebt. Und ich finde den Namen dafür: Seelenverwandtschaft.
Ich werde wieder kommen. Mit Sicherheit werde ich das.
Foto 1:
Carmen Puchianu (im Hintergrund am Tischchen) während ihrer Lesung in Graz.
Foto: Werner Schmitz
Foto 2:
Eine der Kunstinstallationen des Kunstgartens in Graz.
Foto: Reinfrid Horn
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