Mutter – Weihnachten (Russland – 1948)
24.12.20
Text: Dolf Galter
Musik: Dr. Peter Schütz
MUTTER, es will Weihnacht‘ werden;
eine stille heil‘ge Nacht,
in der allem Leid auf Erden
lichter Himmelstrost erwacht.
Schon hör‘ ich mit süßem Schalle
Glockenton herüberzieh‘n,
und ein Stern geht auf für alle,
die sich sehnen und sich müh‘n.
MUTTER, an den grauen Tagen
und am Abend denk‘ ich oft:
Ach, was würdest du wohl sagen,
trät‘ ich wieder unverhofft
zu dir ein, wie einst zuweilen
in versunk‘ner Jugendzeit.
Doch uns trennen so viel Meilen,
und der Weg ist tief verschneit.
MUTTER, ragt der Wald noch immer
hoch und grün am steilen Hang?
Geht der stille Mondenschimmer
silbrig noch das Tal entlang?
Steh‘n verschwistert jetzt die kleinen
Häuser noch im Schnee?
Reckt der alte Kirchturm seinen
Wetterhahn noch in die Höh‘?
MUTTER, setzt ihr euch zusammen
unterm Lichterbaum am Tisch,
dann von all den Kerzenflammen
eine, weiß ich, brennt für mich.
Eine habt ihr angezündet
zum Gedenken – und sie strahlt
weit ins Land, bis sie mich findet
und uns treu die Heimat malt.
MUTTER, es will Weihnacht‘ werden;
froher Schein geht durch die Welt,
alle Dunkelheit auf Erden
wird von diesem Licht erhellt.
Dieser Glanz in unser‘n Herzen,
MUTTER, hält uns stets vereint,
bis das Licht der Weihnachtskerzen
dir und mir gemeinsam scheint.
Dieses Gedicht ist im Jahr 1948 in einem Arbeitslager in der Sowjetunion entstanden. Es wurde dem Deutschen Kreisforum Kronstadt im Dezember vorigen Jahres per E-Mail mit folgendem Begleitschreiben zugeschickt:
Sehr geehrte Damen und Herren,
1974 konnte ich an einem Sommerkurs der Universität Bukarest in Kronstadt teilnehmen. Da ich mich für die Geschichte der Siebenbürger Sachsen interessiert habe, lernte ich auch eine deutsche Familie kennen.
Zum Weihnachtsfest 1974 schickte mir Familie Galter ein Gedicht aus dem Jahre 1948. Es entstand in einem sowjetischen Arbeitslager im Ural und war an die Mutter des Inhaftierten gerichtet.
Der Roman „Atemschaukel“ von Herta Müller hatte mich an die Zusammenkunft mit Familie Galter erinnert.
Ich möchte Ihnen dieses Gedicht zur Verfügung stellen. (...)
Ich selbst habe keine Beziehungen zu Siebenbürgen.
Ich wünsche Ihnen ein frohes Weihnachtsfest!
Matthias Perl
In einer weiteren E-Mail vom 20. Januar d.J. teilte uns der Absender, Univ.-Prof. Matthias Perl (Leipzig), von 1992 bis zu seiner im Jahr 2011 erfolgten Emeritierung Professor für Romanistik (Spanisch, Portugiesisch, Lateinamerika) an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, auf Anfrage mit, dass der Verfasser des Gedichtes, Adolf (Dolf) Galter, im Jahr 1975 verstorben sei. Sein letzter Wohnsitz befand sich in Kronstadt, in jenem Teil der Hintergasse/Avram-Iancu-Straße, der vor der Kreuzung mit der Rumänischen Kirchgasse liegt und damit nicht der Altstadt (Bartholomae), sondern der Blumenau zuzurechnen ist.
Unsere Bemühungen, Genaueres über den Verfasser des Gedichtes in Erfahrung zu bringen, waren bisher erfolglos. Andrerseits konnten wir feststellen, dass Dolf Galters Verse in bisherigen Veröffentlichungen mit Gedichten, die von 1945 in die Sowjetunion deportierten Rumäniendeutschen bzw. Siebenbürger Sachsen verfasst wurden – etwa in der von einem Soziologen-Team der Universität Münster 1995 veröffentlichten umfassenden Untersuchung in drei Bänden "Die Deportation von Siebenbürger Sachsen in die Sowjetunion 1945-1949", deren dritter Band auf mehr als 100 Seiten zahlreiche lyrische Texte wiedergibt, oder in dem 2015 erschienenen, von Günter Czernetzky, Renate Weber-Schlenther, Luzian Geier, Hans-Werner Schuster und Erwin-Josef ?igla herausgegebenen Gedenkbuch "Lager Lyrik" (Schiller Verlag Bonn Hermannstadt) -, nicht vorkommen, weswegen wir eine Veröffentlichung an dieser Stelle, 72 Jahre nach ihrem Entstehen, für angebracht halten.
Prof. Dr. Matthias Perl schickte uns das Gedicht „Mutter – Weihnachten“ als Reproduktion einer maschinengeschriebenen Abschrift zu, die Dolf Galter mit „Weihnachten 1974“ datiert und eigenhändig signiert hatte. Auf diesem Typoskript wird Dr. Peter Schütz als Autor der Musik, d.h. als der, der die Verse des Gedichtes vertont hat, angegeben. Wenn über den Verfasser des Gedichtes, wie gezeigt, kaum biographische Daten vorliegen, so ist bei Dr. Peter Schütz das Gegenteil der Fall. Einem im Internet zugänglichen biographischen Text aus der Feder des bekannten Organisten und Musikhistorikers Dr. Franz Metz (http://www.edition-musik-suedost.de/html/schutz.html) entnehmen wir folgende Angaben: Peter Schütz wurde im Jahr 1899 in der Banater Ortschaft Uiwar geboren. Nach dem Abitur in Temeswar studierte er ab 1919 Medizin in Graz. 1929 ließ er sich als selbstständiger Arzt in Uiwar nieder, war aber zugleich auch ein eifriger Sänger, dessen schöner Tenor in vielen Aufführungen, auch in Temeswar, Kronstadt oder Hermannstadt, zu hören war. Beispielsweise sang er 1935 in Hermannstadt die Titelrolle in Rudolf Wagner-Régenys Oper „Der Günstling“. Im Zweiten Weltkrieg wurde Dr. Peter Schütz als Arzt zum rumänischen Militär eingezogen. Er geriet nach dem 23. August 1944 in sowjetische Kriegsgefangenschaft, aus der er erst im Jahr 1951 entlassen wurde, worauf er wieder als Arzt in seinem Heimatort tätig war. In der Kriegsgefangenschaft hatte Dr. Peter Schütz begonnen, Lieder zu komponieren, zu Texten, die entweder er oder andere Langerinsassen verfasst hatten. Auf diese Weise vertonte er offenbar auch das hier veröffentlichte Gedicht von Dolf Galter. Dr. Franz Metz berichtet: „Am Tag seiner Befreiung musste Peter Schütz aber sämtliche Schriftstücke übergeben, nichts durfte mitgenommen werden. (…) In Uiwar angekommen, begann Peter Schütz nun aus dem Gedächtnis all seine Lieder, die er in russischer Gefangenschaft komponiert hat, aufzuschreiben. Und nicht nur die Noten, sondern samt Text und allen Strophen.“ Möglicherweise befindet sich im Nachlass von Dr. Peter Schütz – er verstarb 1977 in Kitzingen (Unterfranken/Deutschland) – auch die Partitur des Liedes „Mutter – Weihnachten“, dessen Text von Dolf Galter verfasst wurde. (Wolfgang Wittstock)
PS. Sollte es Leserinnen/Leser dieser Zeilen geben, die Adolf Galter gekannt haben und über seine Lebensumstände Bescheid wissen, so bitten wir sie, mit uns über die E-Mail-Anschrift der Redaktion in Verbindung zu treten.
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
Herausgeber: Demokratisches Forum der Deutschen im Kreis Kronstadt
Redaktion: 500.030 Braşov, Str. GH. Baiulescu 2,
Fernruf und Telefax: 0040 -(0)268/475 841,
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Schriftleiter: Elise Wilk.
Redaktuere:Ralf Sudrigian, Hans Butmaloiu, Christine Chiriac (Redakteurin, 2009-2014), Dieter Drotleff (Redaktionsleiter 1989 - 2007)
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