Nie vergessen – aber verzeihen
10.02.11
Hans Lutsch konnte 1945 knapp der Deportierung entkommen
Es war der 10. Januar 1945. Seit einigen Tagen marschierten Kolonnen von sowjetischen Soldaten in Hermannstadt von der Unterstadt unter dem Rathausturm hinauf und dann um den Großen Ring entlang der Heltauer Straße. In der Stadt wurde gemunkelt, den deutschen Bewohnern stehe nichts Gutes bevor. Ich war damals Gremial-Handelsschüler und machte meine praktische Ausbildung bei der Firma „Misselbacher“. Durch die großen Schaufenster konnte ich die mit Gesang vorbeimarschierenden Kolonnen sowie von Pferden gezogene große Planwagen beobachten. Mein Chef, Herr Binder, wurde von einem Bekannten (Herr Trigarki) zur Flucht nach Rasinari aufgefordert, da alle Deutschen gewisser Alterskategorien nach Russland verschleppt werden sollten. Mein Chef glaubte ihm nicht: „Das kann nicht wahr sein!“ Aber es wurde wahr.
Am 13. Januar, um 23 Uhr, wurde in das Einfahrttor der Jugendherberge (Internat) ein Maschinengewehr aufgestellt, bewacht von drei rumänischen und drei russischen Soldaten. Andere Soldaten drangen in die Schlafräume und befahlen allen brüllend, in einer Viertelstunde im Hof anzutreten. Viele konnten nicht einmal ihre Schuhe anziehen und erschienen in Strümpfen im Hof. Dort wurden sie in Kolonnen aufgestellt und von den Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetts zum Bahnhof getrieben und in Viehwaggons eingesperrt.
Ich konnte mich noch verstecken und unbemerkt bis zum Umkleideraum schleichen. Dort nahm ich aus meinem Schrank meine schwarze Lammfellmütze und lief zum Tor hinab. „Stai!“ rief mich ein rumänischer Kaporal an. „Stoi!“ kam auch von einem Russen der Befehl. Mit dem Mut der Verzweiflung schrie ich den rumänischen Soldaten an: „Lasa-ma sa trec! Nu vezi, ca sînt român?“ („Lass mich durch! Siehst du nicht, ich bin Rumäne?“) Ich konnte durchkommen und wollte zur 90-er Kaserne gelangen. Auf dem Weg dahin hielten mich am Großen Ring auch rumänische Soldaten mit einem roten Band an der Mütze („Teteristen“) an. „Lass mich bitte nach Hause!“ bat ich den Nächststehenden nachdem ich erneut versicherte, Rumäne zu sein. Es klappte und ich lief bis zur Kaserne, wo ich den Wachposten bat, den Soldaten Ionel Horgos - ein Landsmann von mir aus Gergeschdorf – zum Tor zu rufen. „Ich muss nach Hause, sonst werde ich nach Russland verschleppt. Kannst du dich nicht für einige Tage frei verlangen?“, sagte ich ihm. Er war einverstanden, bekam auch die Bewilligung und zusammen gingen wir zum Bahnhof, wo um ein Uhr ein Zug abfuhr. Ich gab ihm meine Lammfellmütze, zog seinen Militärmantel an und setzte mir die Militärmütze auf den Kopf. So fuhren wir bis nach Cunta. Von dort marschierten wir bei klirrender Kälte und knietiefen Schnee 14 km bis in unser Dorf. Auf dem Weg begegneten wir zwei russischen Lkw vollgestopft mit Frauen und Männer aus unserem Dorf. Ihr Jammern und Klagen kann ich auch heute nicht vergessen.
Im Dorf angekommen, trennte ich mich von Horgos. Hinter den Gärten ging ich bis zu unserer großen Scheune. Das Türchen war abgesperrt aber ich wusste wie man es öffnen konnte. Durch die Scheune gelangte ich in unseren Hof und ging auf die Haustüre zu. Im Haus brannte Licht. Durch das Glasfenster der Tür konnte ich hinein schauen. Meine Mutter saß am Tisch … und neben ihr ein Soldat in rumänischer Uniform. Erschrocken zog ich mich zurück und lief wieder zur Scheune. Meine Mutter hatte mich aber erkannt und rief dem Soldaten: „Este baiatul meu afara! Baiatul meu! Vai, vai!“ („Mein Sohn ist draußen ...“). Der Soldat kam heraus und rief: „Junge, du Sohn deiner Mutter, bleibe stehen und komm zurück. Ich tue dir nichts, komm getrost!“ Ich kam, meine Mutter umarmte mich weinend und wiederholte immer wieder: „Liebes Kind, ich habe soviel um dich gebangt.“ Ich sollte etwas essen, während der Soldat beim Tor war, um mich zu warnen, falls Russen kommen. Kaum hatte ich einige Bissen geschluckt, da kam schon der Soldat: „Schnell, lauf in den Stall!“ Ich lief hin und legte mich in die Krippe. Kaum war ich dort, drangen schon die Russen in den Stall. Sie waren betrunken und brüllten. Einer schoss mit der Pistole in den Zementboden aber bis zur Krippe kamen sie nicht. Nachdem sie auch im Haus gesucht hatten und erst nachdem der rumänische Soldat mich verständigte, dass sie weggegangen seien, traute ich mich wieder zu Tisch. Kaum zehn Minuten später wiederholte sich die ganze Szene. Diesmal lief ich in die Scheune und wühlte mich ins Heu. Die Russen suchten auch dort und stachen dabei immer wieder mit den Bajonetten ins Heu. Hätten sie nur einige Zentimeter tiefer gestochen, sie hätten mich durchbohrt.
Als mich der rumänische Soldat zum dritten Mal vor den Russen warnen musste, entschloss ich mich, von zu Hause fortzugehen und in den Wald zu flüchten. Dort verbrachte ich, bei Kälte und Hunger, drei Tage und drei Nächte. Dabei kaute ich etwas gefrorenes Moos und schluckte es irgendwie herunter. Ich war erstarrt vor Kälte und konnte kaum noch gehen, als mich meine Mutter im Wald fand und abholte. „Komm, wir haben einen Bunker in der Scheune gemacht, dort sollst du dich verstecken“, sagte sie. Zusammen mit meinem Nachbarn und Schulkollegen Martin Stefani verbrachten wir im Stroh und im Dunkeln einige Tage bis meine Mutter uns hinausrief, da die Russen fortgegangen wären. Draußen war es nicht kalt, die Sonne blendete uns als wir auf einem Strohschober lagen.
Plötzlich kam es mir vor, als wäre jemand über den Zaun von der benachbarten deutschen Schule in unseren Garten gesprungen. Fünf Russen waren im Garten. Ich erschrak bis ins Mark und konnte dem Stefani nur noch zurufen: „Lauf, die Russen sind da!“ Während ich über einen Zaun sprang, wurde nach uns geschossen aber ich konnte entwischen. Martin blieb hängen und die Russen haben ihn fortgeschleppt. Er gelangte ins Kohlenbergwerk Makajewka, wo er krank wurde und in die DDR geschickt wurde. Von dort kam er dann in die Bundesrepublik. Jahre später erhielt ich aus Kanada einen Brief von ihm.
Hans Lutsch, Kronstadt/Gergeschdorf
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
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