Papierhörnchen, eigene Fake-News erstellen und Fragen der Generation Z
20.06.25
Installation Reflections of East-West Perspectives in Kronstadt
Mitte der 80er Jahre konnte man im Hermannstädter Theater Filme aus dem Westen auf importierten Video-Kasetten schauen. Dafür musste man Eintritt zahlen. Es war eine Strategie, durch die das Theater sein Überleben sichern wollte. Eine andere Überlebensstrategie war, dass in der Tischlerei des Theaters Särge und Holzkreuze hergestellt wurden. Es war eine katastrophale Situation für alle Kulturinstitutionen in Rumänien- ab dem 1. Januar 1984 hatte die kommunistische Partei das Konzept der Eigenfinanzierung eingeführt. Bis zu dem Datum waren die Kultureinrichtungen zu 70% vom Staat und zu 30% aus Eigenmitteln finanziert, danach wurde dieser Verhältnins umgekehrt. Im Laufe der Jahre wurde es schlechter und schlechter, bis zum Schluss die Steuern, die man an den Staat abgeben musste, höher waren als die Subvention, erinnerte sich Wolfgang Wittstock, der zu der Zeit als Dramaturg im Hermannstädter Theater angestellt war.
Es war nicht leicht, doch die Kultur musste überleben und die Menschen überlebten dank der Kultur- sie war in den Jahren vor der Wende ein Akt des Winderstandes. Kulturanalyst Ioan Big erwähnte, das es während des Kommunismus in Kronstadt sogar eine Punkband gab, die in den Sälen probte, wo sich heute das Multikulturelle Zentrum der Transilvania-Uni befindet.
Kulturmanagerin Roxana Lăpădat erinnert sich, was ihr eine ehemalige Angestellte des Bukarester Goethe-Instituts erzählte. Nach der Revolution 1989 kam eine Frau ins Institut und dankte den Angestellten. “Dank den Büchern, die wir uns von hier ausgeliehen haben, konnten wir von der Freiheit träumen“. Der Künstler Vlaicu Golcea sprach über die Generation Z, die keinen eizigen Tag im Kommunismus aufgewachsen ist und trotzdem von Ostalgie spricht. Und eine Frau aus dem Publikum meint, dass für die jungen Leute heute der Begriff „Westen“ nichts Spezielles mehr bedeuten würde. „Für frühere Generationen waren Schokolade und Gummibärchen ein Symbol des Westens“. Die Diskussion, die von Adrian Lăcătuș, dem Leiter des Multikulturellen Zentrums der Transilvania-Uni moderiert wurde, war ein sehr interessantes Rahmenprogramm der Installation Reflections on East-West Perspectives. Vom 10. bis zum 14. Juni konnte sie in Kronstadt besucht werden.
Deutsch-Rumänische Kommunikation über den Eisernen Vorhang hinweg
Informationsvermerk vom 01.02.1986, Quelle: Tudor
„Gabriele Kaczmarek erzählte mir, dass vor kurzem (sie nannte kein Datum) ein Dekret erlassen wurde, das die Beziehungen zwischen ausländischen und rumänischen Staatsbürgern regelt, und in diesem Zusammenhang machte sie mich darauf aufmerksam, sie nicht von zu Hause aus anzurufen, sondern nur von öffentlichen Telefonen aus und dabei meinen Namen nicht zu nennen. Sie begründete dies damit, dass die Securitate-Leute nichts von meiner Beziehung mit ihr erfahren sollten, weil wir in Schwierigkeiten geraten könnten...In diesem Zusammenhang erzählte sie mir, dass sie sich fürchtete, als sie in der Udristei-Straße wohnte, weil sie immer das Gefühl hatte, dass sie jemand aus dem Schatten heraus beobachtet”
Diesen Text las ich auf einem Papier-Hörnchen, das ich aus der Installation nach Hause mitgenommen habe. Leute, die ihre Kindheit in den 70er und 80er Jahren in kommunistischen Wohnblockvierteln verbracht haben erinnern sich mit Sicherheit an die Papierhörnchen, auf Rumänisch Cornete. Diese waren von den Kindern alten Schulheften hergestellt und durch ein Rohr geblasen. Die Hörnchen waren wie Nachrichten wischen Ost und West, manche schafften es vielleicht hinüber, andere blieben im Netz hängen.
Mehr als hundert Papierhörnchen hängen in einem Tennisnetz oder sind im ganzen Raum des Multikulturellen Zentrums der Transilvania-Uni verteilt. Auf ihnen sind reale Zeugnisabschriften der Kommunikation jenseits des Eisernen Vorhangs auf Deutsch und Rumänisch gedruckt. Dabei stammen die verwendeten Dokumente aus Archiven in Rumänien und Deutschland, Interviews, Aussagen oder Artikeln, die in der Presse erschienen sind. Die Installation erinnert nicht nur an das beliebte Kinderspiel, sondern auch an die Gefahr physischer und symbolischen Grenzen während des kommunistischen Regimes.
Wie gelang der Dialog zwischen Ost und West?
Wie gelang es der Kultur in Rumänien, trotz Zensur und Isolation, Räume des Widerstands im kommunistischen Regime zu schaffen? Welche Rolle spielten westliche Kutlurinstitutionen- wie das Goethe-Institut (das 1979 in Bukarest eröffnet wurde)- bei der Aufrechterhaltung eines Dialogs zwischen Ost und West, trotz der andauernden Überwachung durch die Securitate? Wie konnten Kommunikationsbrücken und kultureller Austausch über streng überwachte Grenzen hinweg aufgebaut werden? Welche Formen des künstlerischen Ausdrucks ermöglichten die Herausbildung eines kritischen Bewusstseins im Kontext der offiziellen Propaganda? Inwiefern hallen diese Praktiken des kulturellen Widerstands in der heutigen digitalen Gegenwart wider, die zunehmend von Desinformation und Polarisierung geprägt ist? Welche Art von Erinnerung pflegen wir heute im Zusammenhang mit dieser jungen Vergangenheit und wie beeinflußt diese unsere Fähigkeit, zeitgenössische Formen des Extremismus und der Informationsmanipulation zu erkennen? Mit welchen Identitätskonflikten konfrontiert sich die Generation Z angesichts des Kommunismuserbes sowie der neuen Formen der Informationskontrolle? Wie kann die zeitgenössische Kunst einen authentischen Raum für Reflexion und Diaog zwischen Ost und West schaffen?
Von diesen Fragen geht die performative Installation Reflexions on East-West Perspectives aus und recherchiert, wie es Kultur geschafft hat, die ideologischen, historischen und symbolischen Grenzen zwischen Os tund West zu überwinden. Die Ausstellung spannt einen Bogen über einen Zeitraum von 50 Jahren und untersucht Formen der Kommunikation, des Widerstands und der Manipulation, die kollektive Identitäten und Wahrnehmungen prägen.
Konservengläser mit „eingelegtem“ Stacheldraht
Anhand sieben separaten Installationen vereint Reflections of East-West-Perspectives analoge Ausstattungen mit digitalen Technoogien und KI-Machine Learning, sowie Archivforschung mit Interviews, interaktiven Narrativen und Performances.
Eine weitere Installation in der Ausstellung zeigt ein bisher unveröffentlichtes Videokument, das aus dem Archiv von Kinema ikon stammt: sie dokumentiert den Besuch von Nicolae Ceausescu in Arad im Jahr 1979. Sie untersucht, wie Fakten durch ästhetische und Social-Media-Mechanismen in “alternative Realitäten“ verwandelt werden können. Die Original-Aufnahmen laufen auf einem Retro-Fernseher, anhand von Dias wird ein abgeleitetes Material präsentiert, das mit analogen und digitalen Collagetechniken visuell neu interpretiert wurde. Ein weiteres Material, das mit Hilfe von KI geschaffen wurde, konfiguriert eine mögliche Zukunft, die sich aus den Realitäten der kommunistischen Vergangenheit und den extremistischen Narrativen der Gegenwart ableitet.
„Erstelle deine eigene Fake-News“, hieß es in einer anderen Installation. Dabei konnten die Besucher mit Hilfe eines Overhead-Projektors Text- und Bildfragmente wie in einem Puzzle neu zu konfigurieren und eigene (wahre oder erfundene) Geschichten zu erschaffen, um dabei die Grenzen zwischen Realität und Manipulation zu erkunden.
Ein Telefon mit Wählscheibe und externen Mikrophonen rekonstruieren die Atmosphäre der stetigen Überwachung durch die Securitate, Konservengläser mit „eingelegtem“ Stacheldraht hinterfragen die Auswirkungen der sozialen Traumata eines von Kontrolle, Isolation und repressiver Politik geprägten Osteuropas der Gegenwart und eine dokumentarische Video-Installation des deutschen Künstlers Oscar Loeser spiegelt die deutsche Perspektive auf die inneren Grenzen zwischen Ost und West wider.
Eine andere Installation zeigt anhand autobiographischer Testimonials wie sich die Generation Z zu ihrer eigenen Realität verhält.
Die Dokumentation der Installation basiert auf der Doktorarbeit-Recherche von Roxana Lăpădat über die Auswirkung der Außenkulturpolitik in Krisenzeiten, am Beispiel des deutsch-rumänischen Kulturtransfers (1968-2007). Die im Rahmen des Horizon-Europe Projekts NARDIV, an der Universität Aix-Marseille und der Universität Tübingen durchgeführte Forschung umfasst ausführliche Archiv-Recherchen und Interviews. Auszüge aus diesen Dokumenten sind über die Papierhörnchen oder online unter interfonic.de verfügbar.
‚Das Projekt „Reflections on East-West Perspective” ist eine Produktion des Postnationalen Theaters Interfonicin Zusammenarbeit mit dem Goethe-Isntitut und Kinema Ikon. Es wurde vom Nationalen Kulturfonds AFCN mitfinanziert.
Das Gespräch aus Kronstadt kann auf Youtube unter „Dezbatere: Reflections on East West Perspectives. Centrul Multicultural al Universității Transilvania” abgerufen werden.
Elise Wilk
v.l.n.r: Adrian Lăcătuș, Wolfgang Wittstock, Roxana Lăpădat, Ioan Big und Vlaicu Golcea bei der Diskussion im Multikulturellen Zentrum der Transilvania-Uni. Foto: Elise Wilk
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
Herausgeber: Demokratisches Forum der Deutschen im Kreis Kronstadt
Redaktion: 500.030 Braşov, Str. GH. Baiulescu 2,
Fernruf und Telefax: 0040 -(0)268/475 841,
E-Mail:kronstadt@adz.ro
Schriftleiter: Elise Wilk.
Redaktuere:Ralf Sudrigian, Hans Butmaloiu, Christine Chiriac (Redakteurin, 2009-2014), Dieter Drotleff (Redaktionsleiter 1989 - 2007)
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