PATRICK LEIGH FERMOR
21.10.10
Rumänien – Reisen in einem Land, ehe die Finsternis hereinbrach (II)
Hie und da, lange Kutsch- oder Schlittenfahrten voneinander entfernt, beschattet von hohen Bäumen und Krähenhorsten, mit Kutschhäusern, Ställen, Schmieden, Scheunen und Katen dahinter, lagen die langgestreckten, ihren Gegenstücken in Turgenjews Romanen so ähnlichen moldauischen Gutshäuser, wie eine verstreute Flotte weißer Schiffe. Der Putz blätterte von den Säulen und Giebeln, und drinnen sah man in den Zimmerfluchten Louis-Philippe- und Second-Empire-Möbel. Von den Wänden blickten gutmütige oder böse Woiwoden in halb byzantinischer, halb slawischer Panoplia aus Pelzmütze, Aigrette, pelzverbrämten Umhängen und Perlen. Es gab ein oder zwei westeuropäische Verwandte mit gepudertem Haar, Bojarenabkömmlinge mit Epauletten und Säbeln, rührende Mädchen in Krinolinen mit Blumen und Tauben in der Hand und, in diesem Haus, einen stattlichen Urgroßvater namens Fürst George Cantacuzene in byronesker griechischer Generalsuniform und mit Krummsäbel, die Kapitulation des Paschas von Monemvasia entgegennehmend.Wenn es dunkel wurde und Niculina, den Fidibus in der Hand, die Dochte einer Reihe von Schirmlampen anzündete, erfasste das Licht den brüchigen goldenen Heiligenschein einer Ikone, einen Samowar, Tassen und Rosinenbrot, cozonac, eine Vitrine voller Urkunden mit dicken Siegeln, den Doppeladler des Familienwappens, hohe Porzellanofen, die Prismen der Kronleuchter, Hirschgeweihe, das Glasauge eines gewaltigen Bärenpelzes aus den Karpaten sowie Tausende Bücher in mehreren Sprachen. Gesprochen wurde eher französisch als rumänisch. Was bei dieser Marotte herauskam (wie in Polen und Russland das Erbe von Generationen), hörte sich an wie die Unterhaltung auf der ersten Seite von „Krieg und Frieden“, es war nur nicht so albern. Man sprach über die Dinge des Landlebens, über Ernten, Holzfällen, Pferde, die man kaufen, verkaufen oder beschlagen wollte, über anstehende Jagden auf Fasane, Wasservögel, Trappen, Hirsche und Rehe, Wölfe, Wildschweine und Bären. Die meisten dieser Landedelleute waren halb bankrott, aber ihr Leben war reich an Geschichten von einstigen Extravaganzen und Exzentrizitäten, von Komödien, Intrigen und gelegentlichen Duellen; aber das Hauptthema war die Literatur; auch wenn die Zeiten schwieriger wurden, trafen die Büchersendungen aus Paris und London immer noch ein.Es wäre unmöglich, die beiden Sehwestern einer bestimmten Kategorie zuzuordnen. Sie waren in Frankreich und England zur Schule gegangen, hatten ihre Erfahrungen in der ganzen Welt gemacht und waren überall in der Gesellschaft eingeführt, sie waren großherzig, schön, mutig, begabt und phantasievoll, sie kannten sich aus in der Literatur und der Kunst, waren freundlich, lustig, unkonventionell; jeder mochte sie, auch ich. Der Ehemann der einen bewirtschaftete das Gut, und ihre Tochter sah aus wie Ophelia auf dem Bild von Millais. Das ganze Haus, seine Bewohner und alles, was dazugehörte, waren von einem Zauber durchdrungen, der sich nicht in Worte fassen ließ.Der größte Teil des riesigen Besitzes war durch die Landreform verlorengegangen. Geld war knapp, Bedienstete wurden in Naturalien bezahlt, und man teilte, was man hatte; das galt, konnte man sagen, auch für die Besitzer; und es reichte immer, um zurechtzukommen. Irgendwo in der Nähe lebten die Rentner, und wenn nötig, erschienen ehemalige Bedienstete. Ich sehe sie alle noch vor mir: Ionitza, die hohlwangige Köchin; Ifrim Podubniak, der schäbig gekleidete, nie ganz nüchterne Butler; Niculina mit dem weißen Häubchen, genannt la femme électrique, die mit ihrer Geschwindigkeit und Aufmerksamkeit den fehlenden Strom vergessen ließ; sie war in Mihai Pintilie verliebt; er und Mihai Caval hackten Holz und erledigten alle möglichen Arbeiten; und Fifi, „die Sächsin“, die in einem fernen Flügel auf dem Krankenbett dahinschwand; da gab es Mustafa aus der Dobrudscha; Iwan, den russischen Klempner, der beim Aufstand auf der Potemkin dabeigewesen war, und Pan Stanislas, den Kutscher, einst Stallknecht auf einem Gut der Tarnowskis bei Krakau, der seinen Militärdienst als Dragoner im 2. Regiment der Schwarzenberg-Ulanen geleistet hatte, als Galizien noch österreichisch war. Ein Schäfer namens Petre spielte auf einer langen Holzflöte und Ifrims Vater schnitzte mir eine dreisaitige Fiedel aus dem Holz eines Walnußbaums, den der Sturm umgeweht hatte; Anton, ein vorzüglicher Geiger mit eingetretenem Gesicht, spielte und sang auf Bestellung, unterstützt von einem halben Dutzend weiterer Zigeuner aus dem Dorf. Dort gab es auch eine Alte, die Zaubersprüche und Gesänge für den Gegenzauber kannte; eine andere konnte mit Beschwörungen ganze Dörfer von Ratten befreien. Nach der Schafschur versammelte sich eine claca, fünfzig Mädchen und alte Frauen, in der Scheune zu einer rockenstarrenden Spinngemeinschaft; es waren übermütige Tage mit reichlich Essen und Trinken, mit Singen und Geschichtenerzählen.Der Schnee reichte bis an die Fensterbretter und blieb bis zum Frühling liegen. Manchmal machten wir Ausritte unter einem düsteren Himmel voller Krähen, doch meist war es ein häusliches Leben mit Malen, Schreiben, Lesen, Reden und Abenden im Lampenlicht, wo Mallarmé, Apollinaire, Proust uncI Gide zur Hand waren; „Les Enfants terribles“ und „Le Grand Meaulnes“ und „L'Aiglon“ wurden vorgelesen - erste Schritte in einem verlockenden, unbekannten Land. Die Schneeschmelze gab das Signal für größere Unternehmungen; wir zogen durchs Land, während Heu gemacht wurde und die Schober in die Höhe wuchsen; es folgte die Weizenernte, Dreschen und Worfeln, dann die Weinlese. Die Bauern waren zähe, tüchtige und liebenswerte Menschen, die Männer in Schafsfellwämsern und kegelförmigen Filzhüten, die Frauen mit Hauben. Es dauerte nicht lange, bis ich im Umkreis mehrerer Meilen jeden von ihnen kannte. Ich fühlte mich in der Moldau schon halb zu Hause und mühte mich, ihren Dialekt, ihre Redewendungen und Lieder zu lernen.Für die nächsten ein, zwei Jahre war dies mein Ankerplatz. Wir unternahmen Reisen durch ganz Rumänien; besonders romantisch war eine Tour zu Pferde durch das nördliche Bessarabien (eine Gegend, die heute zu Russland gehört und verwirrenderweise „Moldauische Sowjetrepublik“ heißt) - ich sehe noch die unter den Eichen aufgestellten großen Tische mit Krügen voller Wein und, Kwaß; und per Kanu erkundeten wir jenes gewaltige, leise säuselnde Labyrinth, in der die Donau verströmt.Die Sommertage des Jahres 1939, als Europa in den Krieg taumelte, waren makellos. Zwei der englischen Gäste des Gutes - Henry Neville, eben als frisch von der Schule gekommen, und ich - rissen sich Anfang September los und meldeten sich zum Militär. Als wir am Gara de Nord in Bukarest zum Abschied winkten („In ein paar Monaten sind wir wieder da!“), ahnte keiner von uns, wie lang und dauerhaft der Abschied werden sollte.Zu Hause in England - im Guards Depot sowie in Aldershot und Matlock - konnte ich zwischen den Zeilen ihrer Briefe lesen, welche Qualen sie litten besonders nach dem Fall von Paris und bei der Belagerung Englands. Meine Freunde verfolgten viele der jüngsten Entwicklungen in Rumänien mit Abscheu, ihre Sympathien lagen ganz auf seiten der Alliierten.
(Fortsetzung folgt)
- „Aus Sinn und Form“, Nr. 4, 2010 -
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