PATRICK LEIGH FERMOR
28.10.10
Rumänien – Reisen in einem Land, ehe die Finsternis hereinbrach (III)
Nach einem halben Jahrtausend der Katastrophen, von denen die meisten der Osmanenherrschaft zuzuschreiben waren, schien Rumänien im letzten halben Jahrhundert auf einem guten Weg zu sein. Man hatte schmerzliche Erfahrungen gemacht, eine neue Verfassung sollte viele der Schwächen, über die auch die Rumänen immer wieder klagten, beseitigen. Aus heutiger Sicht erscheint das Leben in der Moldau, von dem ich gesprochen habe, wie ein goldenes Zeitalter. Das stimmt natürlich nicht: in der Hauptstadt blühte die Korruption, die wankelmütige Politik König Carols, die Drohungen und die Brutalität der Eisernen Garde schufen ein Klima der Angst - und bevor das Jahr 1941 zu Ende ging, war das Land unglaublicherweise mit Deutschland verbündet. Bald darauf rückten rumänische Armeen in Russland vor (das eben erst Bessarabien und die Hälfte der Bukowina annektiert hatte), und Hitler überließ das nördliche Siebenbürgen den Ungarn. Nun kamen keine Briefe mehr; es folgte eine Zeit des Schweigens und der Dunkelheit.
Nach einem letzten Rückzug unter entsetzlichen Verlusten liefen die Rumänen zu den vorrückenden Russen über, und bei Kriegsende geriet, wie überall in Osteuropa, das Land, in dem es unter 18 Millionen Einwohnern noch nicht einmal tausend Kommunisten gab, durch eine Mischung aus Gewalt und Gaunerei unter die Herrschaft der Kommunisten. Durch die Gesellschaft, in der ich mich vor dem Krieg bewegt hatte, war ich auf eine schwarze Liste geraten, und das aller Wahrscheinlichkeit nach auf Dauer. Doch als der Frieden zurückkehrte, fanden auch Briefe in beide Richtungen wieder ihren Weg, und nach und nach erfuhren wir, wie es den anderen in diesen Jahren ergangen war.
Die Schwestern hatten im Krieg Verwundete gepflegt; das Land war konfisziert worden; und an einem düsteren Morgen in den späten vierziger Jahren war ein Lastwagen mit Polizisten und einem Kommissar vorgefahren. Sie durften einen Koffer mitnehmen und hatten eine Viertelstunde zum Packen. (Die Familie Cantacuzene hatte seit Generationen dort gelebt.) Dorfbewohner luden ihnen unter Tränen Brotlaibe, Käse, Eier und Geflügel auf, dann schaffte der Lastwagen sie fort. Sie sollten nie mehr zurückkehren. Die malende Schwester versuchte mit einem Cousin zu fliehen – sie wollten ans Schwarze Meer und von da aus in einem Ruderboot nach Konstantinopel -, aber sie wurden verraten und ins Gefängnis gesteckt. (Der Cousin konnte von Glück reden, dass er nicht, wie mehrere Verwandte, zur Arbeit an den Donau-Schwarzmeer-Kanal geschickt wurde. Dieser grausige Graben wurde zwar nie vollendet, aber er war die Grube, in der man „gesellschaftszersetzende Elemente“ - so der offizielle Ausdruck verschwinden ließ; 100.000 Unerwünschte sollen dort umgekommen sein.) Die übrige Familie wurde umgesiedelt und 200 Kilometer von ihrer alten Heimat entfernt, am Fuße der Karpaten, in einen Dachboden gesteckt.
Als mein Einreiseverbot aufgehoben wurde, 1965, kehrte ich mit einem Touristenvisum sofort nach Rumänien zurück. Kontakte mit Ausländern standen unter schwerer Strafe, aber sie zu beherbergen war noch schlimmer; so musste der Besuch heimlich erfolgen, bei Nacht, mit einem Motorrad, das uns die Ophelia-Nichte lieh, die als technische Zeichnerin in Bukarest arbeitete. Wir fanden sie alle auf ihrem Dachboden. Obwohl so viel Zeit vergangen war, sahen meine Freunde noch so gut aus wie eh und je, der besonnene, klare Blick und der Humor waren ihnen nicht abhanden gekommen; es war, als hätten wir uns vor ein paar Monaten zuletzt gesehen und nicht vor sechsundzwanzig Jahren. Ohne Klagen und in aller Kürze erzählten sie von den Grausamkeiten, die sie erlebt hatten: die Zeit war knapp, und wir legten nur kurze Pausen ein, um auf ein paar Stühlen zu schlafen. Der Rest unserer achtundvierzig Stunden - mehr trauten wir uns nicht zu riskieren - war angefüllt mit Erinnerungen an die Vorkriegszeit, mit Berichten über das Schicksal all unserer Freunde, mit Lachen und Fröhlichkeit. Es war ein wunderbares Wiedersehen. Die Schwestern verdienten sich ihren staatlichen Hungerlohn, indem sie Französisch, Englisch und Malen unterrichteten.
Später, als sie doch wieder für zwei oder drei Wochen ins Ausland durften, gab es weitere Rumänentreffen sowie glückliche Besuche bei Freunden in England und Frankreich und Griechenland. Anfängliche Pläne, Rumänien ganz zu verlassen, wurden nie verwirklicht, nicht zuletzt weil sie sich schon zu alt dafür fühlten; außerdem war Rumänien für sie nach wie vor ihre Heimat; vielleicht schreckte sie auch der Gedanke, jemandem zur Last zu fallen. Dieselbe schreckliche Krankheit raffte einen nach dem anderen dahin. Vornehmheit des Charakters war der bestimmende Zug dieser Familie. Sie schrieben viele und brillante Briefe, und der Kontakt riss nie ab. Manche Menschen führen unter feindseligen Systemen ein Ersatzleben, den Federhalter in der Hand.
Erst in den sechziger Jahren erfuhr ich, was aus meinen alten ungarischen Freunden in Siebenbürgen geworden war. Sie alle waren mit besonderer Grausamkeit von ihren Gütern vertrieben worden, schrieb „István“-Elemér mir in einem Brief: sie waren nach Ungarn gegangen. (Ich fand ihn schließlich in einer Arbeiterwohnung in Budapest, wo er sich mit der Übersetzung von englischen Bedienungshandbüchern abschuftete.)
Vor ein paar Jahren bereiste ich meine Siebenbürgenroute von 1934 noch einmal, und meine erste Station war Ineu, wo Tibor, der Kavallerist, gelebt hatte. Eine neue Straße zerschnitt den Park, am Tor befanden sich ein finsteres Büro und eine Anschlagtafel, und so parkte ich den Wagen außer Sichtweite und kletterte, nicht ohne böse Ahnungen, über die Mauer. Alles wirkte verlassen und ungepflegt, und nach all den Jahren kam mir das Haus mit seinen palladischen Säulen weit kleiner vor als in meiner Erinnerung. Aber was waren das für Gestalten, die ich dort sah? Sie irrten umher, standen teilnahmslos da oder saßen im Gras, jeder für sich.
Ich sprach einen von ihnen an und merkte an der irren Antwort, dass er geistesgestört war; und das waren sie alle. Keine dieser armen Seelen würde mich aufhalten, und so ging ich hinein. Überall waren Zwischenwände eingezogen; es war unmöglich, sich noch zurechtzufinden. Im Obergeschoss war es übersichtlicher, und ich fand mein altes Zimmer wieder. Acht Betten standen nun darin, auf dreien saßen Patienten mit leerem Lächeln, und ich setzte mich auf ein freies Bett, um nachzudenken. Eine rotwangige Frau mit einem Besen kam herein und fragte, wen ich suche. Ihre Miene hellte sich auf, als ich Tibor nannte: ihre Familie war seit Urgroßvaters Zeiten in den Diensten der seinen gewesen, und sie war als Putzfrau hier geblieben. „Ja, sie sind alle fortgegangen - Tibor, Gabor, Iris, alle, aber jetzt sind sie tot. Das waren gute Menschen.“
(Aus dem Englischen von Manfred Allié)
(Schluss folgt)
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
Herausgeber: Demokratisches Forum der Deutschen im Kreis Kronstadt
Redaktion: 500.030 Braşov, Str. GH. Baiulescu 2,
Fernruf und Telefax: 0040 -(0)268/475 841,
E-Mail:kronstadt@adz.ro
Schriftleiter: Elise Wilk.
Redaktuere:Ralf Sudrigian, Hans Butmaloiu, Christine Chiriac (Redakteurin, 2009-2014), Dieter Drotleff (Redaktionsleiter 1989 - 2007)
Aktuell
Karpatenrundschau
13.06.25
Die Konferenzreihe ArhiDebate in Kronstadt
[mehr...]
13.06.25
Kronstädter Musikerinnen (XIII): Klavierlehrerin Adele Honigberger (1887-1970)
[mehr...]