Selbstbewusstsein im Wandel
01.10.09
Festrede beim XIX. Sachsentreffen in Birthälm (I)/Von Dr. Harald Roth
„Selbstbewusstsein im Wandel“ lautete das Motto des diesjährigen Sachsentreffens in Birthälm, das am 19. September stattgefunden hat. Die Festrede hielt der Historiker Dr. Harald Roth, Mitarbeiter des Deutschen Kulturforums östliches Europa e.V. Potsdam und zugleich stellvertretender Vorsitzender des Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturrates e.V. Gundelsheim und des Arbeitskreises für Siebenbürgische Landeskunde e.V. Heidelberg. Roth wurde 1965 in Schäßburg/Sighi{oara geboren. Er wuchs in Kronstadt/Bra{ov auf und siedelte 1976 nach Deutschland aus. Seine bemerkens- und bedenkswerte Festansprache wird in dieser und in der nächsten Ausgabe unserer Wochenschrift veröffentlicht. Die Zwischentitel setzte die Redaktion.
Das Jahr 2009 ist reich an Jubiläen. Auch bei den Sachsen. Ihre spezifischen Gedenktage sind 20 Jahre seit der Forumsgründung, 40 Jahre seit der Gründung des Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturrats, 60 Jahre seit jener des Verbands der Siebenbürger Sachsen, 90 Jahre seit dem Anschluss an Rumänien.
All dieser Ereignisse gedenken wir in diesem Jahr, und natürlich der europaweit und global relevanten wie etwa des Beginns des Zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren, der auch für die Sachsen den schmerzlichsten Einschnitt ihrer Geschichte zur Folge hatte.
Wenn wir uns die Gedenktage genauer ansehen, fällt auf, dass ein Datum von den landläufig bekannten etwas abweicht: In Rumänien feiert man das Jahr 1918 als Anschluss an Rumänien. Die ungarischen Geschichtsbücher hingegen geben das Jahr 1920 an – für die einen ist die große Anschlussversammlung und die militärische Besetzung entscheidend, für die anderen erst der völkerrechtlich verbindliche Friedensvertrag. Und um nicht parteiisch sein zu müssen, wählen die Sachsen wohl den goldenen Mittelweg zwischen Rumänen und Ungarn und das Jahr zwischen 1918 und 1920 für ihr Gedenken?
Nicht ganz. Dieser Mittelweg, der im 20. Jahrhundert tatsächlich ein sächsisches Kennzeichen war, hat sich erst nachträglich ergeben. Schon wenige Wochen nachdem die alte Donaumonarchie zusammengebrochen und erste Truppen aus Altrumänien in Siebenbürgen einmarschiert waren, im Januar 1919, versammelten sich Vertreter der Sachsen in Mediasch und hielten nach intensiver Diskussion fest: „Das sächsische Volk beschließt seinen Anschluss an das Königreich Rumänien“ – etwa so, als ob ein selbständiges Land, vielleicht ein Bundesland oder ein Bundesstaat, den Beitritt zu einem größeren Verband beschließt. Keine Andeutung daran, dass die Sachsen inzwischen eine kleine Minderheit geworden waren, nein, das „sächsische Volk“ beschloss vollkommen eigenverantwortlich, dass es von jenem Tage an „ein Glied des rumänischen Reiches, seine Söhne und Töchter (…) Bürger dieses Staates“ sein sollten. So klar die Sachsen jener Tage auch vor Augen hatten, dass sie den Lauf der Geschichte in keiner Weise mehr beeinflussen konnten und dass sie mit oder gegen ihren Willen ein Teil Rumäniens geworden wären, so war es für sie dennoch selbstverständlich, selbstständig, wie ein Souverän zu entscheiden.
Ein heikles Thema
So bietet uns das Gedenkjahr 1919 ein Paradebeispiel für das (deutsche!) Kernwort unseres heutigen Mottos: „Selbstbewusstsein“ – ein sehr ernstes, fast heikles Thema. Ohne den Anflug irgendwelcher Selbstzweifel beschlossen die Sachsen 1919 selbstbestimmt die Richtung ihrer Politik. Nicht die misslichen Zeitläufte, nicht der militärisch Obsiegende, nicht eine neue Regierung sollte ihnen vorschreiben können, welche Staatsbürgerschaft sie künftig haben sollten – das wollten sie ganz selbstverantwortlich entscheiden. Dieses gerüttelt Maß an Selbstbewusstsein kam natürlich nicht von ungefähr und liegt nicht allein im Pragmatismus der damaligen Situation begründet. Es hatte weit zurückreichende Wurzeln. Die Ursprünge lassen sich gut sieben Jahrhunderte vor der Mediascher Anschlusserklärung ausmachen: Als die deutschen Siedler im Süden Siebenbürgens Land des Königs für die Gründung neuer Wohnorte zugewiesen bekamen, wurde vereinbart, dass niemand zwischen ihnen und dem Landesherrn stehen sollte, sie waren „königs-unmittelbar“ und mussten niemand anderem Gehorsam erweisen. Selbst in kirchlicher Hinsicht wurden sie herausgehoben und erhielten für das früheste Siedlungsgebiet eine eigene Kirchenorganisation. Sie bildeten also einen eigenständigen Organismus innerhalb des Königreichs, freilich nicht ohne Hintergedanken des Landesherrn, weil er sich dadurch reichlich Steuereinnahmen, dauerhafte Treue und militärische Gefolgschaft sowie ein Gegengewicht zum oft mächtigen Adel versprach. Solche Rechtskonstrukte waren im Mittelalter keine Einzelfälle. Das Besondere in diesem Fall aber war, dass die Deutschen der sogenannten Hermannstädter Provinz ihre Rechte über die Jahrhunderte hin bewahren und sogar noch ausbauen konnten.
Diese besondere Stellung wurde den Deutschen oder Sachsen, wie sie auch heißen sollten, bald geneidet und – weitab des königlichen Schutzes – streitig gemacht. Sie aber setzten sich ganz selbstbewusst mit Waffengewalt zur Wehr, um Besitz und Rechte zu sichern, etwa 1277, als ein sächsisches Heer den Bischofssitz Weißenburg eroberte und einschließlich der Domkirche verwüstete, oder 1308, als abermals dem Bischof eine Lektion erteilt werden musste und ein sächsisches Aufgebot dem Weißenburger Klerus eine Abreibung verschaffte. Es ging jedoch noch weiter, selbst gegen den König wagten sie 1324 die Waffen zu erheben, als dieser ihre inzwischen schon altüberkommenen Rechte in Frage stellte. Auch wenn sie militärisch nicht zu siegen vermochten, so erreichten sie doch eine neuerliche Sicherung ihrer Stellung. Die Sachsen des Mittelalters müssen jedenfalls eine sehr klare Vorstellung der Rahmenbedingungen ihrer Eigenständigkeit gehabt haben – kann es denn ein stärkeres Selbstbewusstsein geben, als selbst gegen den eigenen Landesherrn die Waffen zu ergreifen, wenn dieser sich nicht an alte Vereinbarungen hält?
Die Sachsen verhielten sich dabei übrigens nicht anders als der ungarische Adel, dem das Recht zustand, dem König Widerstand zu leisten, wenn dieser sich über geltende Gesetze hinwegsetzte – die Sachsen verhielten sich wie ein „Stand“, also wie eine rechtstragende Gruppe in einem Staat. Sie sollten noch oft zu den Waffen greifen, wenn sie ihre Position gefährdet sahen. Ich will nur zwei Beispiele herausgreifen, die das Selbstbewusstsein dieser Gruppe besonders anschaulich illustrieren.
Selbstbewusstes Aufbegehren
Nachdem das mittelalterliche Königreich Ungarn unter den Schlägen der Osmanen allmählich auseinanderfiel, kämpften zwei Gegenkönige um die Herrschaft im Stephansreich: ein Habsburger auf der einen und ein Vertreter des ungarischen Adels auf der anderen Seite. Als sich der König der ungarischen Partei die türkische Unterstützung organisiert und den Habsburger aus Ungarn vertrieben hatte, wechselte das ganze Reich die Seiten und fiel vom Habsburger ab – bis auf eine einzige Stadt: Hermannstadt, das Haupt der Sächsischen Nation, stand alleine und in unverbrüchlicher Treue zum „teutschen König“. Die damals reichste Stadt Siebenbürgens wollte sich von der Macht der Verhältnisse nicht diktieren lassen, auf wessen Seite sie zu stehen habe, trotzig und selbstbewusst harrte sie über etliche Jahre hin aus, ließ sich von halb Siebenbürgen belagern, verspielte den Großteil ihres Reichtums, um sich letztlich nur widerstrebend der Übermacht und den Verhältnissen zu beugen.
Durchaus ähnlich rund 150 Jahre später Kronstadt: Die Armeen des Kaisers hatten die Türken fast aus dem gesamten alten Ungarn vertrieben, sie hatten Siebenbürgen besetzt und der Landtag hatte sich dem Kaiser unterworfen. Da weigerten sich die Kronstädter, die Stadt den kaiserlichen Offizieren zu öffnen - sie wollten keinen Oberherrn, dessen Armeen Terror verbreiteten, der andernorts in seinem Reich die Evangelischen hinrichtete und der sich gewiss nicht an Recht und Gesetz halten würde. Auch hier ein selbstbewusstes Aufbegehren, das seinesgleichen nicht kannte und Eingang in die Geschichtsbücher fand.
Nachdem sich der habsburgische Absolutismus in Siebenbürgen etabliert hatte, standen die Sachsen vor einem nicht unerheblichen Dilemma: Sie waren einerseits in allen Landesgremien paritätisch vertreten und setzten große Hoffnungen auf das deutsche Herrscherhaus und seine Vertreter. Sie wurden aber andererseits von Wiener Bürokraten und Offizieren herablassend als Nichtadlige und als Protestanten behandelt. Die Sachsen waren nicht gewohnt, mit Hofschranzen zu verkehren, und schon gar nicht mit solchen, die sie auch noch verhöhnten. Sie pflegten direkt mit Königen zu sprechen, sie entschieden über den Landesfürsten mit oder steuerten gar – wie etwa der Hermannstädter Bürgermeister Peter Haller – die Bündnispolitik des Landes. Sie boten dem Adel der Komitate über Jahrhunderte hin die Stirn, er biss sich an ihnen die Zähne aus. Nun aber standen gepuderte österreichische und böhmische Adlige - in Schnallenschuhen statt in Stiefeln - als Vertreter des Kaisers da. Sie sahen auf die Sachsen herab, sie hätten die Sachsen am liebsten vom Sockel ihrer Rechte gestoßen und katholisch gemacht.
Ein eigenständiges Volk
Unter dieser neuartigen Demütigung litt das Selbstwertgefühl der sächsischen Oberen erheblich. Äußerlich versuchten sie sich durch die Nachahmung Wiener Lebensart und durch den Erwerb phantasievoller Adelstitel darüber hinwegzuhelfen. Argumentativ aber ging man anders vor. Vor allem wurde nun zunehmend davon gesprochen, dass die sächsischen Bewohner des Königsbodens grundsätzlich kollektiv adlig seien. „Kollektiv adlig“ hieß in diesem Kontext schlicht, dass alle Inhaber des sächsischen Rechts frei, also „von Stand“ waren. Die Inhaber dieses Rechts sollten sich ihres Standes wieder stärker bewusst werden, sie sollten gegenüber den Adelstitelträgern aus den Ländern des Kaisers selbstbewusst auftreten - wie Adlige eben.
Ein Blick zu den Szeklern, die ihren kollektiven Adel damals schon seit Jahrhunderten immer wieder betonten, legitimierte diese Position erst recht. Denn im Vergleich zur Szekler Nachbarnation, die entgegen ihrem Postulat inzwischen einen starken Adel und eine breite Untertanen- und Leibeigenenschicht ausgebildet hatte, verfügten die Sachsen auf Königsboden bei allen sozialen Unterschieden tatsächlich über gleiche Rechte. So wie im 17. Jahrhundert der Sohn unfreier Eltern vom Komitatsboden auf Sachsenboden zum Bischof oder wie ein zugezogener Glaubensflüchtling zum Sachsengrafen werden konnte, so war es im 18. Jahrhundert möglich, als Abkomme eines Bauerngeschlechts zum obersten Landesbeamten aufzusteigen – eine soziale Mobilität, auf die sich die Sachsen mit Recht etwas einbilden konnten, da sie für jene Zeiten erstaunlich war.
Das 19. Jahrhundert änderte – um allmählich wieder zu unserem zeitlichen Ausgangspunkt zurückzukehren – am sächsischen Selbstbewusstsein wenig, auch wenn die alte Autonomie der Nation nach und nach verlorenging. Dafür bezog man allmählich alle Sachsen, also auch die bis dahin unfreien aus den Komitaten, ins Selbstverständnis mit ein und betrachtete sich nun als „Volk“ – und zwar durchaus als eigenständiges Volk. Zwar wurde der große Zusammenhang mit den deutschen Ländern gesehen und auch oft betont. Aber mit den vielen anderen, zum Teil bedrängten Deutschen im ungarischen Reichsteil der Monarchie wollte man nicht viel oder gar nichts zu tun haben, da standen die Sachsen ganz selbstbewusst darüber – und verhandelten, wie ehedem, als Volk oder fast wie eine eigenständige Nation direkt mit der Regierung.
(Fortsetzung in unserer nächsten Ausgabe)
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
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