„… so manches getan, um das schwere Los unserer Bauern zu erleichtern“
01.03.24
Über gesellschaftliche, wirtschaftspolitische und kulturelle Initiativen Erwin Wittstocks nach 1945/Ein Beitrag zum 125. Geburtstag des siebenbürgisch-deutschen Schriftstellers (II)/Von Wolfgang Wittstock
(Fortsetzung aus unserer vorigen Ausgabe)
2. Eine weitere Quelle über Erwin Wittstocks Rolle beim Zustandekommen des Dekrets Nr. 81/1954 ist Hans Bergels Aufsatz „Vom Nullpunkt zur Resignation. Anmerkungen zum letzten Lebensabschnitt der Schriftsteller Erwin Wittstock, Alfred Margul-Sperber, Oskar Walter Cisek”, der in Heft Nr. 2/1974 der „Südostdeutschen Vierteljahresblätter” (München) veröffentlicht wurde. Da heißt es:
„Die bedeutendste öffentliche Leistung Erwin Wittstocks nach 1945 war die von ihm mitveranlasste Vorbereitung des berühmten – übrigens nie veröffentlichten – ‚Dekrets Nr. 81‘. Das ‚Dekret‘ – schon 1954 erwogen – verfügte die Rückgabe der enteigneten Häuser und Höfe an die deutschen Bauern des Landes. Über Wittstocks Rolle hierbei ist bis zur Veröffentlichung dieser Zeilen aus erklärlichen Gründen nichts bekannt geworden.
Im Frühjahr 1956 empfing der damals mächtigste Mann Rumäniens, Staats- und Parteichef Gheorghe Gheorghiu-Dej, Erwin Wittstock. Dies war nach langwierigen vorsichtigen, über etwa ein Dutzend Mittelsmänner geführten Verhandlungen erreicht worden. Wittstock übergab dem Staatschef ein nach wirtschaftlichen, rechtlichen und humanitären Gesichtspunkten von ihm aufgesetztes ‚Memorandum‘. Darin erbrachte er den Nachweis der ‚Selbstschädigung der rumänischen Volkswirtschaft infolge der Enteignung der deutschen Bauern‘. In einem über vier Stunden dauernden Gespräch – das Gheorghiu-Dej mit deutlichem Widerwillen begonnen hatte – ‚ritt‘ Wittstock mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit auf der These von der ‚Selbstschädigung‘. Er trug sie anhand von Zahlen mit solcher Überzeugungskraft vor, dass der Staatschef sich nach anderthalb Stunden zu ersten Fragen herabließ und Wittstock schließlich in ein Gespräch verwickelte, das nur wegen eines Termins unterbrochen wurde. Er begleitete den Besucher bis zur Tür und versicherte, die im ‚Memorandum‘ aufgeführten Darlegungen, die ihm neue Aspekte eröffnet hätten, umgehend prüfen zu lassen.
Das ‚Dekret Nr. 81‘ trat in Kraft; es leitete die Rückgabe der Häuser und Höfe ein, in die z.T. ehemals nomadisierende Zigeuner gesetzt worden waren; vielerorts bezogen die Bauern Ruinen. Ihre Äcker erhielten sie allerdings nicht zurück.
Überblickt man das letzte Vierteljahrhundert siebenbürgisch-deutscher und Banater schwäbischer Geschichte, muss festgestellt werden: dass das ‚Dekret Nr. 81‘ den Rumäniendeutschen die in diesem Zeitraum wesentlichste Basis der Weiterexistenz sicherte.“
Falsche Datierung
Über eine Audienz, die Gheorghe Gheorghiu-Dej, damals Generalsekretär der allmächtigen Rumänischen Arbeiterpartei, Erwin Wittstock in den 1950er Jahren gewährt hatte, war der Familie des Schriftstellers nichts bekannt. Darum bemühte ich mich in den Jahren 1979 (anlässlich einer Besuchsreise in die Bundesrepublik Deutschland) und 1999, brieflich von Hans Bergel Aufklärung darüber zu erhalten, woher dieser derart detailliert Kenntnis habe von der Aussprache Wittstocks bei Gheorghiu-Dej. (Dieser Briefwechsel wurde im Deutschen Jahrbuch für Rumänien auf das Jahr 2024 veröffentlicht. In seinem Brief vom 28. August 1999 berichtete Bergel, er habe Wittstock auf dessen Wunsch zur Audienz bei Gheorghiu-Dej begleitet, und schilderte ausführlich die Umstände, die dazu geführt hatten, wie auch den Verlauf des Gespräches.)
Dass Erwin Wittstock in der Angelegenheit der Rückgabe der sächsischen und schwäbischen Bauernhöfe bei hohen Würdenträgern der damaligen kommunistischen Zeit (bei Ministern und hohen Parteifunktionären) intervenierte, ist als sicher anzunehmen, und es gibt dafür auch Indizien, wie meine weiteren Ausführungen zeigen werden. Vorerst aber müssen zu Bergels Text von 1974 noch etliche Anmerkungen gemacht werden:
a) Bergel datiert die Begegnung zwischen Wittstock und Gheorghiu-Dej ins Frühjahr 1956 und meint, das Dekret Nr. 81 sei „schon im Frühjahr 1954 erwogen“ worden. Tatsächlich kommen in der heimatkundlichen Literatur immer wieder falsche Datierungen dieses Rechtsaktes vor, z.B. in der Serie „Heimatkunde in Daten“, die die „Karpatenrundschau“ 1973/1974 in 72 Folgen veröffentlichte (siehe Folge 64 in der KR Nr. 32/9. August 1974), oder in der „Sächsisch-schwäbischen Chronik“, herausgegeben von Eduard Eisenburger und Michael Kroner, Bukarest 1976 (Seite 230). Richtig ist aber, dass das Dekret schon 1954 beschlossen wurde, dann aber noch sukzessive abgeändert werden musste.
b) Recht hat Bergel, wenn er behauptet, dass das Dekret Nr. 81 nie veröffentlicht wurde. Das Gleiche gilt auch für den dazugehörigen Ministerrats-Beschluss. Erst in den Jahren 1995, 1996 gelang es mir, in Bukarest an diese Texte heranzukommen und sie dann 1997, in deutscher Übersetzung, in der „Karpatenrundschau“ Nr. 17/26. April 1997 zu veröffentlichen.
c) Hans Bergel schreibt, dass Erwin Wittstock Gheorghiu-Dej ein „nach wirtschaftlichen, rechtlichen und humanitären Gesichtspunkten von ihm aufgesetztes ‚Memorandum‘“ übergeben habe. Da uns für die Begegnung mit Dej jeder weitere Anhaltspunkt, außer Bergels Äußerungen, fehlt, ist uns auch über das erwähnte Memorandum nichts bekannt. Andererseits gibt es in Erwin Wittstocks Nachlass den Entwurf einer „Denkschrift“ über die Situation der deutschen Bevölkerung in der damaligen Region Stalin, die den größten Teil des sächsischen Siedlungsgebietes umfasste. Diese Denkschrift ist nicht datiert, doch gibt es im Text etliche Anhaltspunkte, die ihre Entstehung im Jahr 1957 als plausibel erscheinen lassen. Ihre Präambel und die nächsten zwei Absätze, die den Titel „I. Voraussetzungen“ tragen, haben folgenden Wortlaut:
„Die Unterfertigten Michael Schuster, Erwin Wittstock, Dr. Otto Liebhart und Georg Scherg sind ersucht worden, eine Denkschrift über die gegenwärtige kulturelle und wirtschaftliche Lage der deutschen Bevölkerung der Region Stalin abzufassen und, mit entsprechenden Vorschlägen versehen, an Genossen Sekretär des Zentralkomitees Ion Fazekas weiterzuleiten.
I. Voraussetzungen:
Am 13. Februar 1956 hat eine Aussprache mit dem Sekretär des ZK Gen. Ion Fazekas stattgefunden, an der ungefähr dreißig deutsche Intellektuelle der Region Stalin teilgenommen haben und die demselben Gegenstand gewidmet war. Sie hatte den Zweck, insbesondere die Meinung der Geladenen über ihre Tätigkeit und die Schwierigkeiten in ihrem Arbeitsgebiet kennenzulernen.
Diese Aussprache hat eine günstige Wirkung gehabt und hat in den weitesten Kreisen der deutschen Bevölkerung Aufmerksamkeit und Zustimmung hervorgerufen. Manche von den damals lautgewordenen Wünschen sind inzwischen verwirklicht worden.“
Plausible Zahlen
In dieser wohl ersten Fassung der Denkschrift, möglicherweise auf Wittstocks Schreibmaschine geschrieben und von ihm diktiert, geht es um Fragen des deutschsprachigen Schulwesens, den Hochschulunterricht für die deutschen Studierenden, um das Kulturleben (Theater, Kulturgruppen, Literatur, Zeitungen, Zeitschriften, die Situation des Brukenthalmuseums in Hermannstadt), aber auch um die wirtschaftliche Lage der deutschen Bevölkerung. Ob die Denkschrift jemals fertiggestellt wurde und ob sie ihren Adressaten erreichte, ist uns nicht bekannt, doch stellt der uns zur Verfügung stehende Entwurf ein wichtiges Dokument über die Befindlichkeit der Rumäniendeutschen Mitte der 1950er Jahre, kurz vor der Verhaftungslawine und der Welle politischer Prozesse (Schriftstellerprozess, Schwarze-Kirche-Prozess usw.) dar. Außerdem äußert sich die Denkschrift auch über die vom Dekret Nr. 81 gezeitigten Effekte: „Zur Besserung der allgemeinen Wirtschaftslage der deutschen Bauern hat auch die Rückgabe der Höfe beigetragen. Von den im Jahr 1945 enteigneten rund 25.000 Häusern sind nahezu 23.000 zurückgegeben worden.“ 23.000 von 25.000 – das sind immerhin rund 92 Prozent. Die Zahlen erscheinen plausibel, auch wenn man sie mit jenen von Hans Hartl vergleicht, der für das sächsische Siedlungsgebiet Südsiebenbürgens von 33.700 enteigneten Höfen sprach, wobei die Differenz z.T. wohl auf die außerhalb der Region Stalin liegenden Gebiete entfällt.
Ein genaueres Studium des Erwin-Wittstock-Archivs und der Korrespondenz des Schriftstellers würde sicherlich noch weitere Erkenntnisse über die gesellschaftlichen, wirtschaftspolitischen und kulturellen Initiativen Erwin Wittstocks nach 1945 vermitteln. Nicht uninteressant wäre es auch, dessen politische Tätigkeit, dessen juristische Schriften aus der Zwischenkriegszeit zu untersuchen. Bis zum Jahr 1933 hatte Wittstock am politischen Leben der Siebenbürger Sachsen aktiv teilgenommen: als Mitglied im Hermannstädter Ortsausschuss, im Hermannstädter Kreisausschuss und als einziger Vertreter der jungen Generation im Deutsch-Sächsischen Volksrat für Siebenbürgen. Im Hinblick auf den fünften Sachsentag, der 1933 in Hermannstadt abgehalten wurde, hatte er einen „Entwurf zu einem Organisationsstatut der sächsischen Volksgemeinschaft“ geschrieben und veröffentlicht, der – wie konnte es anders sein – dem damals dominierenden Zeitgeist verhaftet war. Erwin Wittstock gehörte zum Klingsor-Kreis und damals auch zur Gefolgschaft von Fritz Fabritius; andererseits ist dieser Statuten-Entwurf offensichtlich von den bewährten Traditionen des siebenbürgisch-sächsischen Gemeinwesens durchdrungen.
Eine geistige Revolte
Seit 1949 war Wittstock zunächst provisorisches Mitglied des Schriftstellerverbandes der Rumänischen Volksrepublik („membru stagiar“) und seit 1954 definitives Mitglied. Auch in dieser Eigenschaft setzte er sich für die Belange seiner Landsleute ein. In dem Beitrag „Lumea rezisten?ei anticomuniste române?ti“ (Die Welt des rumänischen antikommunistischen Widerstands, „Magazin istoric“, Heft 9/1997, S. 28 ff.), verfasst vom Historiker und Diplomaten Alexandru Popescu, wird mitgeteilt: „Beim Schriftstellerkongress vom Sommer 1955 ereignete sich eine geistige Revolte. (…) Aufsehen erregte die Haltung des Dichters Erwin Wittstock. Er forderte die rumänischen Kollegen auf, Stellung zu nehmen bezüglich der Tragödie, die die Deutschen in Rumänien erfahren haben: Deportationen, Rechtlosigkeit, Verhaftungen“ (Übersetzung W.W.).
Erwin Wittstock leitete in den schwierigen 1950er Jahren zeitweilig die deutsche Sektion des Kronstädter Literaturkreises, deren Veranstaltungen von der Securitate argwöhnisch observiert wurden (was inzwischen aktenkundig ist; siehe dazu das Kapitel über Erwin Wittstock in Stefan Sienerths rezenter Veröffentlichung „Bespitzelt und bedrängt, verhaftet und verstrickt. Rumäniendeutsche Schriftsteller und Geisteswissenschaftler im Blickfeld der Securitate“, Berlin 2022). Maßgeblich beteiligt war Wittstock im Jahr 1957 an der Gestaltung der großen Feier zum 80. Geburtstag des Schriftstellers Adolf Meschendörfer im Musiktheater in Kronstadt, wo er in Anwesenheit des Gefeierten die Festrede hielt, und ebenso mit anlassbedingten Vorträgen an den Gedenkveranstaltungen zum 100. Todestag des siebenbürgisch-sächsischen Mundartdichters Viktor Kästner (1826-1857) in Kästners Geburtsort Kerz sowie im Friedrich-Schiller-Kulturhaus in Bukarest. Im gleichen Jahr hielt er die sogenannte „Quellenrede“ beim Honterusfest auf dem Kleinen Hangestein, deren Text erhalten ist.
Abschließend sei mir erlaubt, nochmals auf Hans Bergels Bericht vom Jahr 1974 bzw. auf eine darin enthaltene - zweifellos zutreffende – Feststellung zu verweisen: Erwin Wittstock hatte in den 1950er Jahren „weder ein Amt, noch eine Funktion inne“, die ihn dazu verpflichtet hätten, sich für seine Landsleute einzusetzen. Er tat es trotzdem, denn er hielt dies – um auf den Titel seines jüngst aus dem Nachlass herausgegebenen Romans anzuspielen – für eine höhere Pflicht.
Erwin Wittstock mit seinen Söhnen Joachim (links) und Manfred (Studiofoto, 1954, Familienarchiv Wittstock)
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
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