Verhaltenswandel
25.03.10
Ein Wort zu unserem Selbstverständnis
Gesprochen in der Vollversammlung der Saxonia-Stiftung in Rosenau, am 13. März 2010 / von Dr. Gerhard Schullerus, Ehrenvorsitzender der Saxonia-Stiftung
Auf der Tagesordnung unserer' heutigen Vollversammlung stehen drei Berichte. Sie werden daraus ersehen, von welcher Fülle von Anliegen und Aufgaben, von Geschehnissen und Er1edigungen die Geschäftsstelle der SAXONIA-Stiftung im Jahr 2009 in Ansprucb genommen und ihnen zu entsprechen bemüht war. Hören Sie sie aber bitte nicht allein, sondern versuchen Sie, sie in weiteren Zusammenhängen zu sehen. Ich kenne den Inhalt dieser Berichte aus der der heutigen Vollversammlung vorangegangenen Vorstandssitzung. Indem ich sie hörte und meinerseits zur Kenntnis nahm, brachten sie mir zum Bewußtsein, dass mit den vielen Hilfen, den Unterstützungen und Förderungen, in gleicher Art wie auch bei anderen derartigen sozialen Einrichtungen, auch bei der SAXONIA-Stiftung ein ethisches Problem gegeben ist: Der große Verhaltenswandel unserer Leute im Vergleich zwischen früher und heute. Man kann sich fragen: Welches ist unser gegenwärtiges Selbstverständnis?
Es ist nicht möglich, heute und hier dieses komplexe Problem in seiner ganzen Breite und Tiefe zu erörtern. Darum will ich es auch gar nicht versuchen. Aber ansprechen will ich es und einige große Linien meine ich aufzeigen zu sollen.
Wir waren in unserer früheren Geschichte ein Volk von Menschen, die für ihre gemeinsamen Anliegen, mit denen die eigenen übereinstimmten, selber zu sorgen gewohnt waren. In einem langen Zeitraum sind wir langsam, aber mehr und mehr, so Menschen einer Gemeinschaft geworden, die zu ihrer äußeren Existenz und ihrem Fortkommen eingestandenermaßen heute nicht nur Hilfe brauchen, sondern heute selbstverständlich Hilfe, Unterstützung oder Förderung von anderswo erwarten. Gewiss soll und darf ein Hilfsbedürftiger - wie immer er in seine Notlage geraten ist - aus Verständnis, aus Erbarmen oder aus Liebe auf Hilfe hoffen oder Hilfe zurecht erwarten. Aber aus eigener Notlage eine Tugend zu machen und - ohne Versuch einer Selbsthilfe oder Eigenleistung - egoistisch selbstverständlich Hilfe für sich zu erwarten oder zu beanspruchen, ist eine ethisch nicht gerechtfertigte und auch Gott sei Dank nicht christliche Haltung.
Nach der Revolution im Jahr 1848 haben unsere Vorfahren zum erstenma1 gemerkt, „daß die Entscheidung all der großen Fragen, die für sie Lebensfragen waren, nicht mehr in ihren Händen lag, nicht einmal so viel, wie es bis dahin der Fall gewesen war.“ (Fr. Teutsch: „Die Siebenbürger Sachsen in Vergangenheit und Gegenwart“). Und als dann „durch den österreichischen Absolutismus das Amt des Sachsengrafen beseitigt worden war, suchte man durch Besch1uß der Landeskirchenversammlung vom Jahr 1852 mittelst der Verlegung des Bischofssitzes /von Birthälm/ nach Hermannstadt dem Sachsenland einen neuen Mittelpunkt zu schaffen.“ (G.E. Müller „Die Verlegung des siebenbürgisch-sächsischen Bischofsitzes“ in „Beiträge zur Geschichte der evangelischen Kirche A.B. in Siebenbürgen“, Hermannstadt, 1922). Wirklich kam es allerdings dazu erst nach 15 Jahren durch die Bischofswahl 1867 und nachdem vorher durch eine allerhöchste Entschließung vom 19. Februar 1861 aus Staatsmitteln ein jährliches Gehalt für den Bischof bewilligt worden war. Denn die „Vorbedingung für die Trennung der Bischofswürde von dem Zusammenhang mit einer Pfarrstelle und deren Einkünften“ (ebenda) war die Lösung der Besoldung des Bischofs. Sie wurde aus der Welt geschafft, indem der Staat seine Besoldung übernahm und nicht die Kirche (!) für sie aufkam.
In der Zeit, in der sich diese Entwicklung vollzog, war auf Betreiben von Stadpfarrer Josef Fabini in Mediasch in unserer Kirche ein Gustav Adolf -Verein gegründet und gleich auch sein Anschluß an den Zentralverein in Deutschland durch den damaligen Rektor des Schäßburger Gymnasiums, Georg Daniel Teutsch, vollzogen worden. Das war der Anfang des Weges, auf dem dann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und bis ins 20. Jahrhundert hinein unsere Kirche große Hilfen erfuhr, von denen die Neubauten verfallender Kirchen, den dann sogenannten Gustav Adolf-Kirchen, und auch neuer Pfarrhäusern zu Anerkennung und zu Dank verpflichtend zeugen. Neben der Dotation für die Bischofsbesoldung waren diese Hilfen zum zweitenmal Mittel, die wir
nicht mehr aus eigenen Kräften aufbrachten.
In derselben Zeit, in der uns diese Hilfen zuteil wurden, erfo1gte 1876 die endgü1tige Auflösung unserer Nationsuniversität und unser Volk verlor seine bis dahin weitgehende politische Selbständigkeit. Auf Grund der Kirchenordnung aus dem Jahr 1861 geschah dann erfolgreich das Bemühen, den erfahrenen Verlust durch innere Stärkung des Gemeinschaftsbewußtseins in den neuen kirchlichen Strukturen zu ersetzen. Hatte in den Jahrhunderten seit der Reformation die Kirche von der bewahrenden und stützenden Kraft des Volkes in den Gemeinden gelebt, so sollte nun die Kirche die Erhaltung des Volkes übernehmen. Was für diese Aufgabe unerlässlich war, auf das wies Bischof Friedrich Müller I. in seinem berühmten Hirtenbrief im Jahr 1895. hin. Es seien die religiös-sittlichen Kräfte, die belebt und gepflegt werden, die erneuert und gekräftigt werden müssten. Ich darf aus dem Hirtenbrief - geschrieben vor 115 Jahren! - zitieren:
„ ... ob die Zeit in der wir leben, und die großen Veränderungen, die sie hervorgebracht, nicht auch der Kirche überhaupt und der unsrigen insbesondere, der so manche besondere Aufgabe zugefallen, die Pflicht auferlege, hier Wege, die ihr bis jetzt nicht fremd waren, entschiedener zu wandeln, dort neue zu finden und einzuschlagen, um das Recht ihres Fortbestandes durch ihre so erfolgreiche Mitarbeit an der sittlich-religiösen Erziehung des gegenwärtigen, so mächtig strebenden und vielleicht auch deshalb so vielfach irrenden Geschlechts zu beweisen.“ (Fr. Teutsch, Geschichte der evangelischen Kirche A.B. In Siebenbürgen, Bd II) Und:
„Je schärfer der allem wirtschaftlichen Leben eigene Zug des Egoismus in der Gegenwart gespürt wird, desto lauter ergeht der Ruf an die Kirche, ihm gegenüber die idealen Kräfte zu sammeln und zu pflegen, damit die Menschen, durch jene zerstreut und feindlich einander gegenübergestellt, sich wieder nahe treten, innerlich Teilnahme alle für einander gewinnen und die Teilnahme einander in Wort und Tat auch beweisen; denn ung1eich mehr als die sogenannten Kulturinteressen eint und verbindet die Religion.“ (ebenda)
Weiter spricht Bischof Müller von der „Auffrischung und Erweiterung der Seelsorge in unserer Landeskirche“ als einem „Gebot der Selbsterhaltung.“ (ebenda) Aus den Körperschaften seiner Gemeinde soll der Pfarrer Helfer zuziehen, die ihn in dieser Aufgabe unterstützen. Und er spricht weiter von der Aufgabe der Kirche, in jeder Gemeinde (!) die Schulen zu erhalten, empfiehlt die Einführung einer geordneten Gemeinde-Armen- und Krankenpflege, und sch1ießlich auch die Errichtung eines kirchlichen Gemeindehauses (Saales). Zum Schluss schreibt Bischof Müller:
„Die Vernunft weiß nichts davon, wie man das Herz zufrieden stellen und trösten soll in den Nöten, da alle Güter fehlen, so die Welt geben kann. Wenn aber Christus kommt, läßt er äußerliche Widrigkeiten bleiben, stärkt aber die Person und macht aus Blödigkeit ein unerschrocken Herz, aus dem Zappeln keck, aus einem unruhigen ein friedsames stilles Gewissen,daß ein solcher Mensch in denselben Sachen getrost, mutig und freudig ist, in welchen sonst alle Welt erschrocken ist, das ist im Tod, Schrecken und Sünde und allen Nöten, da die Welt mit ihrem Troste und Gut nicht mehr helfen kann. Das ist dann ein rechter beständiger Friede, der da ewig bleibt und unüberwindlich ist, solange das Herz an Christus hanget.“ (ebenda)
Und dann kam über unser Volk und seine Leute das 20. Jahrhundert mit den zwei Weltkriegen, vor 65 Jahren die Deportation und der totale Verlust jeglicher Gewährung seiner äußeren Sicherung. Und doch überstanden wir die Zeit des Kommunismus, meinten aber nach 1989 in der Auswanderung Sicherung für unsere Existenz zu finden. Je stärker die Auswanderung war, um so mehr erschienen die in der Heimat Geblieben westlichem Denken wirklich auf vielfältige Hilfe angewiesen. Aber auch die Gebliebenen verstanden sich sehr schnell auch so und fanden alle gebotene Hilfe als berechtigt und selbstverständlich. Wir haben dann auch wirklich vielseitig und großzügig Hilfen, Unterstützungen und Förderungen erfahren und müssen das dank bar, sehr dankbar, immer wieder auch anerkennen und sagen. Durch sie hat Gott wunderbar für uns gesorgt. Und vergessen wir nicht, wir müssen dankbar auch all denen gegenüber sein, die, in Teilnahme an unserer Lage, die Hilfen, Unterstützungen und Förderungen uns boten und bis heute bieten.Und wir müssen auch all denen danken, die hier bei uns bereitwillig und vielfältig alles getan haben, um den rechten Umgang mit den unterschiedlichen Hilfsgütern und ihrer entsprechenden Zutei1ung zu gewährleisten.
Im Zuge der zuletzt genannten sozialen Bemühungen unsererseits haben wir nicht immer „sittlich-religiöses“ Verhalten erfahren, sondern auch manch menschliche, unberechtigte Ansprüche, auch Missgunst und dergleichen mehr. Diese Erfahrungen machen vermittelnden Stellen und Menschen von Hilfsgütern zur besonders wichtigen Aufgabe, selber verantwortungsbewusst und selbstlos darauf zu achten, dass Hilfsgüter, welcher Art auch immer, die ihnen übergeben werden, bestimmungsgemäß oder nach Maßgabe der Bedürftigkeit zugestellt bzw. weitergegeben werden. Das wirkt dann bei den Empfängern von Hilfen in ihrer Bedürftigkeit glückliche Erfahrung und Redlichkeit und Dankbarkeit. Wie erwähnt, gehört zu den Aufgaben solcher Stellen und Menschen auch, Ansprüche und Forderungen auf Hilfen und Unterstützungen zu prüfen, und diese, wenn sie nicht gerechtfertigt sind, abzuweisen. Durch ihr Verhalten sollen unsere Leute auch in Armseligkeit, in unterschiedlicher Not, in Krankheiten, im Alter und in Einsamkeit und anderen Sorge, daran erinnert werden, selber sich als aufrichtig, redlich und wohlmeinend zu zeigen, und sich dazu auch selbst als liebende und freudig hilfsbereite Menschen zu erweisen.
Dem gegenüber stehen wir, ohne Ausnahme, leicht und immer wieder in der Gefahr, aus unserer Not eine Tugend zu machen. Ein solches Verhalten ist in Wahrheit eine verführerische und selbstbetrügerische Versuchung, die uns in unserem Selbstverständnis verblendet oder verwirrt. Mögen wir das erkennen und vor dieser Versuchung gewarnt und in ihr bewahrt werden!
Lasset uns uns so verhalten und verstehen, dass wir nicht Erwartungen hegen und Ansprüche stellen, die uns nicht recht anstehen, sondern als solche erkannt werden, die mit einander in Frieden und zufrieden leben und in Liebe gerne auf das achten, was unserem Nächsten dient.
Zuletzt, seien wir eingedenk dessen, dass wir Christen sind und uns darum nach dem Maß verstehen sollen, das uns im Hebräerbrief nahe gelegt wird: „Werfet euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat. Geduld aber ist euch not, daß ihr den Willen Gottes tut und die Verheißung empfanget“ (10,35-36). Und: „Lasset uns ablegen die Sünde, die uns immer ank1ebt und träge macht, und lasset uns laufen mit Geduld in den Kampf der uns verordnet ist, und aufsehen auf Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens" (12,1b-2a).
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