WALTHER GOTTFRIED SEIDNER
06.08.09
Der Entenchor (VI)
Über die tierische Gefolgschaft
An Georg Unterberger bestand kein politisches Interesse; Österreich war immer schon neutral. Zurück zu meinen Enten. Sie sollten wie auch der Gänserich als Zierde des Pfarrhofs erhalten bleiben. Demnach durften sie, wie auch der Gänserich, nicht geschlachtet werden. Sobald die Haustiere menschliche Züge annehmen, geht man ihnen nicht gerne ans Leben. Und als wir 1982 nach Stolzenburg übersiedelten, blieben sie zurück bei den Familien derer, die uns halfen, die vielerlei Möbel und Gerätschaften aufzuladen. Die Möglichkeit dessen, dass sie vielleicht doch noch über die Klinge haben springen müssen, verdränge ich einfach. Nur der Gänserich konnte nicht mehr vermittelt werden. Eines Abends ging ich zu einem Hausbesuch – und Gregor ging wieder einmal mit. Es dämmerte bereits und ich meinte, er würde bald zum Heimflug aufgeflogen sein, nachdem ich bei der betreffenden Familie eingetreten war. Aber er war zu Hause nicht angekommen. Und so blieb er verschwunden, auch als ich Tags darauf durch alle Straßen der Gemeinde, sogar durch das Schamitzenviertel ging und laut durch die Zähne pfiff. Ich musste an das rumänische Sprichwort denken: Der Räuber hat eine Sünde, - der Geschädigte hat jedoch tausend Sünden: die vielen Verdächtigungen, die er hegt.
Und als ich in der Abschiedspredigt über das Wort Christi „Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme“ zu predigen hatte, erwähnte ich meine lieben Enten und ihre Bereitschaft, auf das Wort einzugehen – und vor allem zu hören: Ein Beispiel also für treues Gehör! Sie hatten ja die Stimme ihres Herrn erkannt - und sie haben seine Nähe gesucht. Und sie hatten sich in einem Entenchor zusammengefunden, also in einer Gemeinschaft!
Auch dazu stellte Kurator Roth im Anschluss an den Gottesdienst den passenden Befund: „Wir sind soweit gekommen, dass wir von den Tieren lernen müssen“.
Zwei Jahre später kehrte ich in Reußdörfchen ein; es galt, eine Trauung zu vollziehen. Der Altknecht und die Altmagd hatten sich nach dramatischen Anläufen und Widerspenstigkeiten endlich füreinander entschieden. Es war die letzte stattliche Trachtenhochzeit in Reußdörfchen.
Dann fielen die Dauben auseinander.
Die Hochzeitsgesellschaft wollte noch einmal die heimatlichen Ordnungen auskosten; dann ging es fast gebündelt nach Stuttgart. Aber noch wurde gefeiert und tüchtig aufgetragen.
Zwischen zwei gedeckten Tafeln besuchte ich den inzwischen gebrechlichen Altkurator. Zum letzten Mal - wie sich später herausstellen sollte. Er, der gerade Michel, der aufrechte, hoch aufgeschossene, sehnige Zimmermann, der Volksredner von einst, der belesene Richtungszeiger, der Märenzíker schlechthin, redete in bedächtigem, fast flüsterndem Ton.
„Meine Frau ist mir vor einem Jahr voraus gegangen. In die Ewigkeit. Meine zwei Söhne sind ausgewandert. Ich bin mit den beiden Töchtern zurückgeblieben“.
Dann holte er einige Lichtbilder hervor, lauter glanzvolle Ansichten: bunte Gärten und saubere Baustellen mit umtriebigen Handwerkern.
„So sieht ein Neuanfang aus. Wie gerne hätte ich selbst den Dachstuhl aufgebaut. Als ich ankam, stand er schon. Ich bin gerade zum Richtfest gekommen. Meine beiden Söhne haben mich von zu Hause abgeholt – und so hab ich auf meine alten Tage Deutschland gesehen. Während des Krieges kam ich ja nur bis Österreich. Die beiden Söhne sind wie zum reichen Onkel abgereist: welcher, welcher kommt zu erst an?! Und sie sind wie in den Spiegel hineingezogen: Der eine, der hier zur Linken gewohnt hat, meinte, er werde drüben zur Rechten wohnen. Dabei sind sie samt ihren Familien in ganz Deutschland zerstreut worden - wie das Mehl der Blinden. Sie haben sich schließlich beide gut eingerichtet. Die eine Schwiegertochter sagte mir: sie habe sich in all der Zeit noch nie in Deutschland geträumt, und die andere: es komme ihr vor, sie befinde sich in einem Kurort und warte nur darauf, die Zeit der Heimkehr möge bald anbrechen. Aber umkehren würde keine. Für mich selbst steht fest: Einen alten Baum verpflanzt man nicht“.
Das klang so, als habe er sich mit seinem Schicksal ausgesöhnt.
Allgemach wurde er beredsamer, und er tat, als habe er mir das Wichtigste noch gar nicht mitgeteilt.
„Auf der Rückfahrt hierher sind wir bei der Bodenwiese eingekehrt“. Und er zeigte mir einige Farbbilder: „Rings um die Baracke, die wir damals aufgestellt haben, stehen jetzt lauter Ferienhäuser. Eine Nacht haben wir dort zugebracht. Aber nicht in meiner Baracke; denn innerhalb ihrer Holzwände wurden Lagerräume eingerichtet. Und viele stattliche Birkenbäume stehen rings umher, die es damals nicht gab. Vor der Abfahrt stellte ich mich an die bewusste Stelle, von der aus ich damals dem Tod ins Auge gesehen habe. Da überkam es mich plötzlich wie aus Heiterem und ich musste laut aufschluchzen. Meine beiden Söhne suchten sich je einen Birkenbaum aus und weinten jeder für sich. Und ich meine, sie weinten nicht nur meinetwegen. Siebenbürgen war unser aller Bodenwiese. Wir können die Heimaterde nicht von den Sohlen abstreifen, wo immer wir hin gehen“.
Als ich Onkel Roschka - wie sein Dorfname lautete - von seinen trüben Gedanken ablenken wollte, indem ich ihn angesichts seiner sonst munteren Erscheinung nach seinem Befinden fragte, gab er mir einen vieldeutigen Spruch zur Auskunft:
„Wir sind soweit gekommen, dass wir den Sommer aus dem Winter ausklauben müssen“ Und nach einer Weile: „Jeder Winter hat einen sommerlichen Nachgeschmack. Denn im Sommer laufen wir uns warm für den Winter – wie es uns die Schwalben mit ihren Gleitflügen vorleben“. Er schwieg drei Atemzüge lang, dann fügte er noch hinzu: „Die Schwalben sind die Brieftauben zwischen Sommer und Winter“.
(Schluss)
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