Weihnachten nicht mehr!
23.12.21
Rothberg – Mons Rubens, Advent 2018/ Von Eginald Schlattner
Liebe Adele Maria:
Du warst der Liebling in der Schar.
Die Tanne, die Du bei Deiner Konfirmation im Kirchpark gepflanzt hast, sie ist größer als der Wehrturm. Inzwischen sind viele Jahre ins Land gegangen. Und Ihr seid allesamt aus diesem Land weggegangen. Noch sind wir drei Greise zu begraben. Selbst die Toten sterben aus.
Doch „die Erinnerung ist das Paradies, aus dem dich niemand vertreiben kann!“ Das schrieben wir bereits als Schüler unseren Mädchen ins Poesiealbum.
Die Zeit der 12 Heiligen Nächte - von Heilig Abend bis zu den drei Heiligen Königen – habe ich vor, bei meiner Kirche zu verbringen. Oft flüchte ich an diesen heiklen Tagen in ein orthodoxes Nonnenkloster. Jedoch meine 40. Weihnacht will ich in Rothberg begehen, im Angesicht „leergebeteter Bänke“ in einer Kirche heiliger Leere und der stillen Nacht.
Und gewiss - wie anders? - mit Blick auf das Gewesene, als es hier noch eine Gemeinde gab und ich eine Familie hatte.
Nachher werde ich Gefängnisse besuchen, noch ein Schritt mehr an Abkehr. Dort habe ich als bestellter Pfarrer eine fixe Gemeinde.
Mein Gott, wie wahr die Worte meiner Großmutter, sie hat vor 1914 eine zeitlang in Italien gelebt: “Tempi passati, finita la commedia!” Doch ohne: Lamento blamabile!
Und nun zu Weihnachten hier, in Rothberg, in Eurer Kirchengemeinde von einst.
Erinnern wir uns, erinnere Dich, wie es an Weihnachten zuging, als Ihr alle noch da wart. Bitte, tatsächlich hochheilig. Und das unter der gottesleugnerischen Diktatur vor 1989.
Doch so geschah es wahrlich und wahrhaftig, kaum zu glauben! Erinnere Dich, Adele Maria!
Was die Pfarrfrau in einen solchen Abend hineinpackte in einer Kirche, die vor Volk aus den Fugen geriet - einer saß dem anderen am Schoß! -, das erscheint mir heute wie ein Märchen aus uralter Zeit. Ihr Kinder nanntet meine Frau Pfarrtante. Ob Ihr wusstet wie sie hieß? Susanna Dorothea Ohnweiler. Und zur Freude aller sprach sie sächsisch; und zwar die Mundart von Hermannstadt, die als Hochsprache galt. Ich nur deutsch, auch willkommen. Deutschland lockte schon damals.
Welch Strauß an Tonfolgen erfüllte das alte Gotteshaus von 1225! Hugo Distler 5-stimmig, vorgetragen von einem bescheidenem Chor aus einer 400 Seelengemeinde. Wobei die Sangeswilligen eher geeicht waren auf Lieder wie Muttertränen und Edelweiß. Zum Repertoire gehörte der Wechselgesang der Erwachsenen oben bei der Orgel mit einem Kinderchor unter dem Triumphbogen. Oft war es ein Knabe, der in kristallklarem Sopran mit Solostimme die Verkündigung des Engels von der Kanzel herabsang.
Einmal warst Du der Engel, Adele Maria, so erinnere ich mich: von der Kanzel flötetest Du die unerhörte Botschaft himmlischer Freude. Selbst todunglücklich, was nur ich wusste, weil Deine Großmutter Dir Engelslöckchen gebrannt hatte, allerliebst anzusehen.
Das Krippenspiel im Chorraum ließ alle die Geschichte sehen im Sinne der Hirten: „Kommt, lasst uns die Geschichte sehen, die da in Bethlehem geschehen ist!“ Blaugewandet und verschämt wiegte das Mädchen Maria die Krippe mit der Stoffpuppe als Jesuskind, behütet von einem genierten Joseph mit falschem Bart und Wanderstab. Aus der Sakristei zogen Fronknechte mit einem Strick das störrische Kamel herbei, während die drei Könige zu Fuß herbeiwallten, der eine, der Mohr, mit Ruß im Gesicht und bleckenden Augen.
Neu war, dass der Pfarrer fortlaufend Weihnacht für Weihnacht über je einen Vers aus der Geburtsgeschichte predigte, kurz. Vor allem kurz - und kindernah. Niemand schlief ein,
Das alles war das Spielbein zu Heilig Abend.
Das Unverrückbare beschrieb der Kurator mit den Worten: “So ist das Recht hier seit unserem großen Reformator, dem Herrn Doktor Martin Luther! Bitte haltet Euch daran, Herr Pfarrer.” Es war das Gerüst, an dem nicht gerüttelt werden durfte. Eben! Dabei ging es nicht um Sitte und Brauch, die gebeugt, verbogen werden konnten. Sondern unverbrüchlich um das Recht seit eh und je. „So ist das Recht hier!“
Dazu gehörte:
In der Woche vor Heilig Abend trafen sich achtzehn junge Frauen mit ihren Fladenbrettern und den Nudelwalkern in der Küche des Pfarrhauses, die Gott Lob sechs Türen hatte, und kneteten den Teig und walkten ihn aus für, sage und schreibe, 5555 Kekse. Alle achtzehn Frauen redeten auf einmal und dennoch verstand jede, was die anderen sagten. Mit halsbrecherischer Zungenfertigkeit redeten sie daher in der archaischen Mundart der Urheimat im Flandrischen. Mittendrin werkelte die Pfarrfrau still und stumm, wiewohl sie perfekt den Dialekt beherrschte. Sie stach die Formen aus und verfrachtete sie in die Kuchenbleche.
Die Kekse wurden im zyklopischen Backofen gebacken, den die Kirchenväter schon beim Morgenläuten angeheizt hatten mit Holzscheiten wie Baumstämme. In der großen Pause liefen die Kinder herbei, um sich ein züngelndes Bild zu machen, was Hänsel und Gretel passiert war.
Tags darauf kam ordnungsgemäß eine andere Reihe von Müttern zusammen und räumte die Kekse in die Tüten und wischte den Fußboden in der Pfarrküche auf.
Vor der Christmette versammelte sich die Menge der Gemeindeglieder zwischen Kirchenportal und Glockenturm, jeweils getrennt nach Teilmengen: Männer und Frauen , dann Mädchen, Burschen, Kinder; aufgestellt jede Gruppe an einer bestimmten unverschiebbaren Stelle vor dem Eingang der Basilika.
Durch die Schalllöcher des Turmes erklang die Dorffanfare mit dem Quem pas laudavere so gewaltig und feierlich, dass die letzte Lehmhütte unten am Bach erbebte. Es hieß respektvoll: “Da, Sa?ii cânt? cu blehu!”
Genau geregelt war, wie man in das Gotteshaus hineinging, wie man herauskam.
Und die Sitzordnung innerhalb des Kirchenschiffs folgte einem Schlüssel, der jedem rigoros seinen Platz zuwies.
Wir waren eine Kirche der Ordnung, die Ordnung als Lebensform. Es bestätigt sich: Die Liebe ist eine verlässliche Ordnung des Zusammenlebens.
Im Inneren erstrahlte der Tannenbaum, der bis zum Gewölbe des Gotteshauses reichte mit hundert Lichtern von Kerzen. Darunter in den Rutenkörben, die die Menschenkinder in den Lehmhütten am Bach flechten, häuften sich die Päckchen mit Süßigkeiten, Lohn der Kinder für das verwickelte Geschäft im Aufsagen der Gedichte.
Der Gottesdienst hub an mit dem Eingangslied: “Vom Himmel hoch, da komm ich her”, Lied 18, EVANGELISCHES GESANGBUCH der Evangelischen Kirche Augsburgischen Bekenntnisses in der Sozialistischen Republik Rumänien.
Ihr, Adele Maria, schriebt Eure Namen hinein und die Buben auch den Namen des Schatzes! Gesungen wurden nach Recht und Ordnung alle fünfzehn Strophen.
Nachher sagten die Kinder Gedichte auf in der beschwerlichen Muttersprache deutsch, so in Schule und Kirche verbrieft: limba materna german?. Während zu Hause Dialekt gesprochen wurde.
„Bleibt ihr stecken, Kinder - Kompliment, Knicks, und ab von der Bühne!“ So die pfarramtliche Regieanweisung.
Ab von der Bühne! Unvorstellbar für die Konfirmanden, 8. Klasse. Denn die hatten auswendig das Weihnachtsevangelium aufzusagen, das Herzstück von Heilig Abend. Die Mädchen plagten sich mit den Passagen der Geburt, die Jungen erzählten von den Hirten auf dem Felde.
Eine liturgische Eigenart war in einigen Gemeinden Siebenbürgens zu Christtag das Leuchtersingen. Um den mit Kerzen bestücken Leuchter, der pyramidal aus Tannenkränzen und Strohhüten bestand und mit dem schönsten Flitterwerk der Welt behängt war, haspelten drei Kindergruppen Text und Melodie herunter, Gott Lob in der Mundart. So, sehr anders, in der Nachbargemeinde Neudorf, Luftlinie eine Meile weg von Rothberg.
Doch als Krönung jeglicher Festgottesdienste galt das Großer Gott wir loben dich (Lied 133): Wie Schauer aus himmlischen Gefilden brauste es durch das Gotteshaus, forte fortemissimo assai; das frühchristliche Te Deum laudamus ertönte musikalisch vierfach überkreuzt als Klang und Melodie: Blasmusik und Orgel, Chor und Gemeinde stehenden Fußes.
Im uralten Gemäuer rieselte 800-jähriger Staub.
Der Heilige Abend klang jeweils aus im weltweiten Lied Stille Nacht, Heilige Nacht. Die Glühbirnen erstarben. Allein die Kerzen auf der Tanne und in den drei Lüstern verströmten ihr magisches Licht.
Christtag um Christtag wiederholte sich das weihevolle Spiel. Und würde weitergehen - so dachte man, wenn man überhaupt dachte - im Mythos der ewigen Wiederkehr. In alle Ewigkeit. Amen.
Mit diesem gediegenen Programm und der Sitzordnung in der Kirche würde die Gemeinde beim Jüngsten Gericht antreten.
Bis die Geschichte zuschlug und den Mythos vertilgte.
Nach der blutigen Revolution zum Ende der Diktatur Dezember 1989 gab es kein Halten mehr: „Alles rennet, rettet flüchtet“. In einem Sommer haben sich die Siebenbürger Sachsen sang- und klanglos aus der Geschichte verabschiedet, auf dem Tag genau nach 850 Jahren.
Nunmehr ertönt nur noch alltägliches Glockengeläute über die Häuser mit den blinden Fenstern.
Ohne dass Füße herbeieilen.
Einen geschmückten Christbaum wird es auch diesmal geben, in der leergebeteten Kirche, ein Bäumchen in Miniatur; wobei der Hund des Burghüters die unteren Kekse und Äpfel und die Goldnüsse wegstibitzt wie eh und je.
So ist das Recht hier!
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
Herausgeber: Demokratisches Forum der Deutschen im Kreis Kronstadt
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Redaktuere:Ralf Sudrigian, Hans Butmaloiu, Christine Chiriac (Redakteurin, 2009-2014), Dieter Drotleff (Redaktionsleiter 1989 - 2007)
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