Wie viel Heimat – Halt – braucht der Mensch?!
07.10.10
Zu: „Einen Halt suchen“, von Joachim Wittstock, Hora-Verlag, Hermannstadt/Sibiu, 352 S., 2009 ISBN 978-973-8226-79-1 (I)
Der Träger des Kulturpreises 2010 des Verbandes der Siebenbürger Sachsen, Joachim Wittstock (geb. 1939), ist heute unbestritten in Rumänien wie auch im deutschsprachigen Europa ein Pfeiler der rumäniendeutschen Literatur. Er lebt und wirkt vor Ort in seiner Vaterstadt Hermannstadt, wo er auch inzwischen bei den Rumänen und Ungarn eine stadtbekannte Persönlichkeit ist.
Sein Werk besteht vor allem aus Lyrik und Epik. Allein nach der Wende verfasste er zwei wichtige Romane „Bestätigt und besiegelt“ über die Deportation der Rumäniendeutschen zur Zwangswiederaufbauarbeit in die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg und „Die uns angebotene Welt“ über sein Germanistikstudium in Klausenburg/Cluj-Napoca im rumänischen Ostblocksozialismus der Jahre 1956-1961. Auch die Essayistik pflegt er konsequent seit Jahrzehnten wie auch diese Sammlung der Suche über ein halbes Jahrhundert nach seelischem Rückhalt und geistiger Geborgenheit beweist.
Schon der Titel gebende Einleitungsessay „Einen Halt suchen“ befasst sich mit einer siebenbürgisch-sächsischen Grundfrage: Bietet der Glaube in allen Notlagen zuverlässig einen Halt?
Am Beispiel des Reformators der Siebenbürger Sachsen, des Lutherschülers Johannes Honterus (1498-1549), erörtert Joachim Wittstock das Verhältnis zwischen Schicksalsschlägen und Halt im Glauben.
Beim Baden in einem reißenden Gewässer nur durch den Griff nach einem Holunderstrauch (in siebenbürgisch-sächsischer Mundart Hontertstreoch genannt) vor dem Ertrinken entronnen, beschließt der junge Kronstädter Johannes seinen Familiennamen in Honterus zu ändern. Möglicherweise nur eine „erfabelte“ Geschichte, aber symbolisch für die Grundsatzproblematik des Suchens nach einem Halt, ähnlich Luthers Gang ins Kloster nach seiner Anrufung im Gewitter „Hilf, Heilige Anna, ich will ein Mönch werden“.
Beide Male wird der Halt im Glauben gefunden, symbolisch besonders für die Siebenbürger Sachsen mit ihrem eigenen Reformator Honterus und dank ihm auch mit einer eigenen, fast ein halbes Jahrtausend alten selbstständigen evangelischen Landeskirche. Bis zur ostblocksozialistischen Schulreform 1948 war sie auch für das deutsche Schulwesen in Siebenbürgen zuständig. Sie schaffte es, als eine der ersten europäischen Institutionen, eine allgemeine Schulpflicht in allen siebenbürgisch-sächsischen Ortschaften einzuführen.
In Hans Bergels Erzählung „Begegnung mit Treff“ (1957), dem Retterhund in den Schluchten der Karpaten, kommt dann eine mystische Schicksalsdimension zur Sprache, während in Paul Schusters „Strahlenloser Sonne“ (1961) tollkühnes Bergsteigertum als egomanischer Nihilismus abgelehnt wird. zugunsten einer harmonischen, humanistischen Gesinnung, wie sie die „Neue Zeit“ verspricht.
Auch in Andreas Birkners Roman „Heinrich, der Wagen bricht“ (1978) wird in der Höhe der Herrlichkeit der Karpatenberge sogar ein Religionsersatz gefunden: „Darüber kann man fromm werden“.
Diese Art Naturfrömmigkeit birgt jedoch die Gefahr des Absturzes. Der ist immer wieder das Thema der Problematik einer oft auch verstiegenen Sinnsuche wie im Roman „Das Jüngste Gericht in Altbirk“ (1972 erschienen post mortem) von Erwin Wittstock, oder in Eginald Schlattners Roman „Der geköpfte Hahn“ (1998).
Damit ist Joachim Wittstock „organisch wachsend“ in die Nachwendezeit gelangt, wo Carmen Elisabeth Puchianus Erzählung vom „Strohschneider“ (1995) die Außenseiterposition des Seiltänzers vieldeutig sowohl als Ausweg aus dem Alltag, wie auch als Inkaufnahme eines schicksalhaften Risikos auffasst.
Risiko thematisierte auch Hans Liebhardts Skizze „Zirkus Guido“ (1981). Mit ironischem Unterton wird die Einstellung der Dorfgemeinschaft dazu festgehalten „Ein Christenmensch geht in die Kirche und nicht in den Zirkus“.
Der Sturz als Symbol des Verlustes eines Haltes erfolgt in Georg Schergs Parabelroman „Bass und Binsen“ (1973) albtraumhaft symbolisch in eine Riesenbassgeige, mächtig wie ein Berg. Doch nach einem nicht enden wollenden Absturz wird der Protagonist von einer Flaumfeder wieder hochgetragen. Drei Jahre lang, bis er wieder zuhause ist.
In Wolf von Aichelburgs Erzählung „Andrasch aus dem Brunnen rief“ (1971) ist aus der Parallele des im Kindesalter verstorbenen Andrasch und dem Übeltäter gleichen Namens die Abgründigkeit des seelischen Elends, das um Hilfe ruft, symbolisiert.
Bodenloses lässt symbolisch auch Franz Hodjak in seinen „Geschichten um Stanislaus“ (1992) vor den Augen des Lesers entstehen, wenn Würdenträger die Bodenlosigkeit eines Brunnens wissenschaftlich ergründen müssen.
Doch nicht die Resignation behält in diesem wichtigen Essay von Joachim Wittstock das letzte Wort, sondern die unerwartete, wenn auch oft schmerzhafte, eine Lösung bietende Alternative. In seinen „Blickvermerken“ (1976) kann sogar Stacheldraht vor Unheil schützen, wenn das Erdreich am offenen Schacht eines Salzbergwerkes durch Stacheldraht abgegrenzt beim Erdrutsch den Hinabgleitenden vor dem fatalen Fall noch im letzten Augenblick auffängt.
Einen universalen Halt findet kulturübergreifend Joachim Wittstock sowohl bei den Rumäniendeutschen vor allem aber auch bei den Rumänen in Goethes Faust II in seinem Essay „Im Namen von Faust, Helena und Euphorion. Deutsch-rumänische Begegnungen in der neueren Literatur“.
Der Literaturhistoriker Ion Roman hat in seinem umfangreichen Studienband „Goethesche Echos in der rumänischen Kultur“ / „Ecouri goetheene in cultura româneasca“, Editura Minerva Bukarest 1980, die Fleißarbeit geleistet, die Wirkung Goethes auf die rumänischen Kulturschaffenden zu dokumentieren.
Constantin Noica, der originellste und hintersinnigste Philosoph der Ceau{escu-Ära, wirft in seinem Essay „Abschied von Goethe“ (1976) Faust ein Übermaß an Kompromissbereitschaft und Wendigkeit, Eigennutz und Genusssucht vor. Letztlich seiner Meinung nach eine Abkehr von der „faustischen Idee“ des 1. Teiles, zu erkennen „Was die Welt / im Innersten zusammenhält.“
In Faust II sieht Constantin Noica eine teuflische Beschränkung auf eine Aneinanderreihung von Möglichkeiten. Diese werden allein vom Intellekt abstrakt durchdrungen und nicht real erlebt.
Wenn das Mögliche über das Reale siegt, wird nach Noica der naturhafte Menschentypus, der lebendige Mensch, vom ideologischen abgelöst. Statt Faust Mephisto. Statt Realität Ideologie. Rumäniens Ostblocksozialismus lässt hier im Gewande des alten Faust grüßen.
Stefan Augustin Doinas, der letzte und sprachlich genaueste Übersetzer des Faust ins Rumänische (1982), schätzt hingegen besonders in Faust II die Begegnung zwischen Faust und Helena als Synthese zwischen Antike und Moderne. Helena als utopische Schöpfung ist dabei, das illusorische Idealbild Fausts, der durch sie zum der weiblichen Schönheit nachjagenden Don Juan wird. Damit scheitert er letztlich tragisch als vergeblich Liebender. Für den im rumänischen Ostblocksozialismus wirkenden Stefan Augustin Doinas eine bemerkenswert mutige Abrechnung mit illusorischen Utopien, für die er Faust II als Anlass nimmt, um Ceausescu Rumänien vorzuführen. Seine Anmerkungen und Kommentare der 1982 im Bukarester Univers-Verlag erschienenen Ausgabe umfassen knapp 200 Seiten. Sie entsprechen dem Informationsgehalt einer kritischen Ausgabe, wie Joachim Wittstock schlussfolgert.
Die Faustübersetzung des 60-jährigen Dichters und Philosophen Lucian Blaga aus dem Jahre 1955, ist nach Meinung der meisten rumänischen Literaturkritiker die eigenwilligste und dichterisch gelungenste. Sie ist das Meisterwerk an Nachdichtungen dieses fleißigen Übersetzers aus der Weltliteratur und wird von einigen sogar sprachlich als kongenial gewertet. Sie ist auch eine Frucht von Blagas lebenslanger Auseinandersetzung mit „dem faustischen Streben“, das er auf originelle Weise immer wieder auch in sein eigenes Werk einfließen ließ, um es dort dann weiterzuführen.
Ingmar Brantsch
(Fortsetzung folgt)
Die Kronstädter Wochenschrift "Karpatenrundschau" erscheint als Beilage in der "Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien".
Herausgeber: Demokratisches Forum der Deutschen im Kreis Kronstadt
Redaktion: 500.030 Braşov, Str. GH. Baiulescu 2,
Fernruf und Telefax: 0040 -(0)268/475 841,
E-Mail:kronstadt@adz.ro
Schriftleiter: Elise Wilk.
Redaktuere:Ralf Sudrigian, Hans Butmaloiu, Christine Chiriac (Redakteurin, 2009-2014), Dieter Drotleff (Redaktionsleiter 1989 - 2007)
Aktuell
Karpatenrundschau
13.06.25
Die Konferenzreihe ArhiDebate in Kronstadt
[mehr...]
13.06.25
Kronstädter Musikerinnen (XIII): Klavierlehrerin Adele Honigberger (1887-1970)
[mehr...]