Zum „Berufen“ (berofen) des Kindes im siebenbürgisch-sächsischen Aberglauben (I)
06.05.10
Von Dr. Sigrid Haldenwang, Forschungsinstitut für Geisteswissenschaften – Hermannstadt / Sibiu
1. Allgemeines
Aberglauben hat schon immer in der siebenbürgisch-sächsischen Landbevölkerung eine große Rolle gespielt. Einen besonderen Platz nimmt „das Berufen“ ein. Es wird angenommen, dass es bestimmte Menschen gibt, die die Fähigkeit besitzen besonders kleine Kinder, jüngere oder ältere Tiere sowie Dinge berufen zu können. Meine Ausführungen beschränken sich auf „das Berufen“ von Kindern. Die Mundartbelege sind dem Archiv des Siebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuchs, dem Nordsiebenbürgischen Wörterbuch und fallweise auch den „Korrespondenzblättern“ sowie der Mundartliteratur entnommen.
2. Zur Person, die beruft
Nach dem Volkskundler Johann Hillner sind es Menschen, die einen „bösen Blick“ haben, das heißt deren Augenbrauen über der Nasenwurzel zusammengewachsen sind oder deren Augen triefen. Doch geschieht das Berufen meistens absichtslos, ohne Wissen und Willen. Andere Bemerkungen dazu bringt der Volkskundler Johann Michael Gassner: „Besondere Merkmale tragen die Leute, die berufen können, nicht. Solche aber, die zweimal Muttermilch gesogen haben, können es“. Nordsiebenbürgische Belege bezeugen diese Aussage: „wiare zem zwetnmool hät gesong, diar beraaf“ („wer zum zweiten Mal Brust gesogen hat, der beruft“) (Jaad/Livezile, in Bistritzer Mundart), oder: „et waar an oalt oamfrau, daae soot aaene, de zwalenkskander beraafn“ („es gab eine alte Hebamme, die sagte immer, dass Zwillingskinder berufen können“) (Weilau/Uila, Kreis Muresch/Mures). Das Berufen ist überhaupt manchen Menschen angeboren: „muntche mäntsch äsz schu esu oaf de wält ku, doat e beraaft, diar wit jo wäszn, diar esu äsz“ („mancher ist schon mit dieser Fähigkeit auf die Welt gekommen, der weiß auch, dass er darüber verfügt“) (Kreweld, heute zu Bistritz/Bistrita gehörend).
3. Wirkungen des Berufens
Die Folgen des Berufens äußern sich verschieden, mit Leibschmerzen, Fieber, Kopfweh. Das Kind weint unnatürlich heftig, hat Krämpfe, kann nicht schlafen. So heißt es: „der boich (det hiift) diid em wii“ („der Bauch, der Kopf tut dem Kind weh“) (Rosch/Ravasel, Kreis Hermannstadt/Sibiu); „sither äs et esu waai beraafn, et huat ruusn“ („seither ist das Kind, als ob es berufen sei, es hat Rosen, d.h. fiebernde Wangen“ (Kreweld), oder: „de fraasz kit aane durich't beraafn“ („das Fieber kommt immer durch das Berufen“) (Niederwallendorf, heute zu Bistritz gehörend). „Berufenwerden“ gilt als schwere Erkrankung, belegt in dem Beispiel: „gleem se daat, et äsz hoalich nichen harter krinket waai doat beraafn“ („glauben Sie das, es gibt keine schwerere Krankeit als das Berufenwerden’) (Jaad, in Bistritzer Mundart); „det känt kän durich’t beraafn zem kräpel wiarn“ („das Kind kann durch das Berufen zum Krüppel werden“) (Kreweld).
Treten diese Erscheinungen ein, so muss zunächst festgestellt werden, ob das Kind tatsächlich berufen ist.
4. Proben, die das Berufensein ermitteln
Dazu wird eine alte kundige Frau gerufen; diese schüttet in eine noch nicht benützte Schüssel Wasser, streut darauf mit der Feuerschaufel glühende Kohlen, sinken die Kohlen unter, so ist das Kind berufen, schwimmen sie auf dem Wasser, so hat es eine andere Krankheit. Dazu die entsprechenden Belege: „wän nau daa koln guar oan sai gesoangkn, doot äsz denoo beroafn“ („wenn die Kohlen ganz eingesunken sind, dann ist man berufen“) (Windau/Ghinda und Kreweld im Kreis Bistritz, Weilau/Uila im Kreis Muresch), aber auch: „wän ee kol nur om blaift, huat än fraa beraafn, blaim zwoo, huat e moanzem beraafn“ („wenn nur eine Kohle oben bleibt, hat eine Frau berufen, bleiben zwei Kohlen oben, dann hat ein Mann berufen“, Kreweld), oder: „wun de koln brausn, huat än fraa beraafn, wun se nät esu schtuark brausn, äsz et e moanzbilt“ („wenn die Kohlen brausen, dann hat eine Frau berufen, wenn sie nicht so stark brausen, dann war es ein Mann“, Weilau). Eine andere Probe beinhaltet folgender Beleg: „wän em gedingkt det känt weer beroafn, koocht em doot gehoaneszkraut, oant wän et beschtoaeet, doat et däk wit, äsz det känt beroafn, oaf dn eomt wees em, u woat em äsz“ („wenn man denkt, das Kind sei berufen, dann kocht man das Johanneskraut und wenn es besteht, und dick wird, ist das Kind berufen, bis zum Abend weiß man, woran man ist“) (Windau, auch Wallendorf/Unirea im Kreis Bistritz).
Dagegen gibt es Vorbeugungsmaßnahmen, zahlreiche Schutzmittel und verschiedene Heilverfahren.
(Fortsetzung folgt)
Bemerkung: Dieser Beitrag wird mit Fußnoten, mundartlichen Sonderzeichen sowie mit Erläuterungen zu den Schreibkonventionen, in dem folgenden Band „Kronstädter Beiträge zur germanistischen Forschung“ im ALDUS Verlag – Kronstadt, veröffentlicht.
Dr. Sigrid Haldenwang anläßlich ihres Vortrages bei der kürzlich stattgefundenen Germanistiktagung.
Foto: Dieter Drotleff
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