Zum „Berufen“ (berofen) des Kindes im siebenbürgisch-sächsischen Aberglauben (II)
13.05.10
Von Dr. Sigrid Haldenwang, Forschungsinstitut für Geisteswissenschaften – Hermannstadt / Sibiu
5. Zu Vorbeugungsmaßnahmen und Schutzmitteln
Das Berufen kann verhindert werden, wenn man rechtzeitig daran denkt und beim Anblick des Kindes sofort ausspuckt, indem man dasselbe für hässlich erklärt: „ptchi, ptchi, net dad ij et berofen“ (…. „nicht, dass ich es euch berufe“), (Schönberg/Dealu Frumos, Kreis Hermannstadt), oder: „pii, tia garschtheaalz, tia zegien, zegeainan“ (… „du Garsthals, du Zigeuner, du Zigeunerin“), (Bekokten/Barcu], Kreis Kronstadt). So auch, wenn das Kind besonders schön ist: „pui behekszt, net doat mer dich beroofen“ (… „behext, nicht dass wir dich berufen“), (Heltau/Cisnadie, Kreis Hermannstadt), wobei gespuckt wird. Der Volkskundler Hillner führt an: „Wenn man früher in Rosenau einer ins Zimmer der Wöchnerin tretenden Weibsperson das Kind zeigte, rief sie: 'pfui dä schaiszel, netch dad ech dech berof' (‘pfui, du Scheusal, nicht dass ich dich berufe’)“ (19. Jh.). Von den Schutzmitteln wollen wir nur einige hier anführen: „Man legt eine Sichel in die Wiege des Kindes“ (Kleinschenk/Cincsor, Kreis Kronstadt), oder „hängt an die Windeln einen Nagel aus einem vermoderten Sarg“ (Bodendorf/Bunesti, Kreis Kronstadt); „Man näht ein Stückchen von einem Glockenriemen in die Fatsche des Kindes ein“ (Felmern/Felmer, Kreis Kronstadt). „Man näht dem Kind an das Häubchen eine Goldmünze, ein bestimmtes Knöpfchen oder ein rotes Band an, die dann als Blickableiter dienen“. So heißt es: „neet dem meetschen e kniifeltchen än’t heifken am’t berofen“ („näht dem Mädchen ein Knöpfchen ins Häubchen gegen das Berufen“), (Schönberg). „Man hängt den Säuglingen an den Hals ein dreieckiges aus feinerem Stoff bereitetes mit Weihrauch, Gewürz gefülltes Pölsterchen („taschken“), auf das ein Natternköpfchen gestickt wird“. An diesem Täschchen nagt das Kind während des Zahnens, und es ist zugleich ein Mittel gegen das Berufen“ (Sankt Georgen/Sângeorzu Nou und Minarken/Monariu im Kreis Bistritz). Auch werden die Kinder mit Wasser aus dem Spülschaff befeuchtet, darauf deutet der Beleg: „em daat hoat em se /die Kinder/ naasz gemoacht eusz dem schpäielschoaf, em sol se nät beraafn“ („man hat sie deshalb nass gemacht mit Wasser aus dem Spülschaff, um sie nicht zu berufen“). Besonders ist die Verwendung „heiliger Zeichen“ gegen das Berufen des Kindes. Die Mutter leckt dem Kind, während es gefatscht wird, mit der Zunge (dreimal) ein Kreuz an die Stirne, spuckt sodann gegen alle vier Winkel des Hauses über das Kind hinweg und sagt: „zwee biisz uugen hun dech gesaan, gotes ooch soal der’t derfun nian, am nume gotesz desz fuetersz, desz sansz uch desz helije giisztesz“ („zwei böse Augen haben dich gesehen, das Gottesauge soll dir das Böse wegnehmen, im Namen Gottes, des Vaters, des Sohnes, des Heiligen Geistes“), (Kleinscheuern/Sura Mica im Kreis Hermannstadt, auch Bodendorf).
Für Nordsiebenbürgen ist dafür auch das Abwehrwort „oanberoafn“ („unberufen“, nicht verzaubert, nicht verhext) belegt, z.B. „joai, dau baszt schtuark, oanberoafn soalt tau sei!“ (... „bist du stark, gesund, kräftig, unberufen sollst du sein“), (Weilau), oder im Taufspruch, adjektivisch gebraucht: „onberaufander draü mer’n (Täufling), onberaufander sun mer’n bränge“ („unberufener tragen wir den Täufling zur Taufe, unberufener sollen wir ihn zurückbringen“), (Niedereidisch/Ideciu de Jos, Kreis Muresch).
6. Zu Heilverfahren
Wenn das Kind trotz aller Vorbeugungsmaßnahmen berufen ist, werden bestimmte Heilverfahren angewendet (dasselbe Heilverfahren kann von Ort zu Ort für dieselbe Krankheit verschieden sein). Das wirksamste und allgemein verbreitetste Heilmittel ist das „iescherchen koochen“ („das Äscherchen kochen“). Es handelt sich um in Wasser gekochte und mit verschiedenen Holz-, Stroh- und Kehrichtteilen vermengte Asche. Als Beispiel bringen wir die Bereitung dieses Heilmittels aus einer südsiebenbürgischen Ortschaft: „em nit eesch, mälem fum dirpel, geriichert schtrii, fun em oolden dooch, en niult mät zwirn, ent koocht doot än em depen. doot hiisz waszer schid em än en scheszel, diit dää onder de wäj en schpriit e griusz deaj iwer de wäch; fun dem goolem schwiiszt det kand en wit gesont“ („man nimmt Asche, Staub von der Türschwelle, geräuchertes Stroh von einem alten Dach, eine Nadel mit Zwirn und kocht alles in einem Topf; das heiße Wasser schüttet man in eine Schüssel, die man unter die Wiege des Kindes stellt, darauf breitet man ein großes Tuch über die Wiege des Kindes. Von dem Dampf schwitzt das Kind und wird gesund“), (Stein/Dacia, Kreis Kronstadt). Äußert sich das Berufensein in nicht so schwerer Form, wird als Heilmittel „det koln laaschn for’t beraafn“ („das Kohlenlöschen gegen das Berufen“) angewendet, das wie folgt zubereitet wird: „man wirft 9 heiße Kohlen ins Wasser: „fu diam woaszer, woat em reot , let em em an, ginet schmaiszt em an oangel oaber oaf an hant oaber oaf an koaz.“ (…. „das mit Zaubersprüchen zubereitete Wasser wird zum Baden des Kindes verwendet, das andere Wasser gießt man an die Türangel oder auf einen Hund oder auf eine Katze“), (Mönchsdorf/Herina, Kreis Bistritz). Das „Kohlenlöschen“ nützt nur dann, wenn das Berufensein sofort erkannt wird; schläft das berufene Kind eine Nacht, ohne dass man Kohlen gelöscht hat, so muss man zu dem wirksameren Mittel dem „Äscherchen kochen“ greifen. Die Heilverfahren finden unter Anwendung von Zaubersprüchen, Zauberformeln statt (südsiebenbürgisch heißt dieser Vorgang „fiir det berofen rieden oder rooden“ („für das Berufen, reden oder raten“); nordsiebenbürgisch ist nur „for det beraafn roodn“ („für das Berufen raten“) bezeugt. Der wichtigste Heilsegen bei beiden Heilverfahren lautet z.B.: „zwäi biisz oogn, daai diir die fläisch och blaut fraaszn, droai gaudn, daai der et wider goabm. äm numen (...)“ („zwei böse Augen, die dir dein Fleisch und dein Blut fraßen, drei gute, die dir es wieder gaben; im Namen ...)“ (Schönbirk/ Sigmar, Kreis Bistritz); auch: „dää biisz trudenougen sole sen bedrougen, durch det fuoteraaser unt det kuolewaszer! dää dir woule schuoden, solen bai de kruoden än de woier hängken, solen doo fersängken! äm nume gotesz (...)“ („die bösen Trudenaugen sollen sein betrogen durch das Vaterunser und dies Kohlenwasser! Die dir wollten schaden, sollen zu den Kröten in den Weiher hinken, sollen dort versinken! Im Namen Gottes ...“), (Rosenau/Râsnov, Kreis Kronstadt).
Leider geht aus keinem Bericht hervor, ob die Kinder letztlich auch geheilt wurden.
7. Fazit
Meine Ausführungen sollten bloß einen Einblick in die Welt des siebenbürgisch-sächsischen Aberglaubens gewähren. Es war nicht meine Absicht herauszufinden, welche Gemeinsamkeiten diesbezüglich mit dem deutschen Sprachraum vorliegen, da dafür eher der Volkskundler zuständig ist. Die siebenbürgisch-sächsischen Volkskundler Gassner, Haltrich, Hillner deuten fallweise auf Ähnlichkeiten mit Saalfelder sowie Chemnitzer Aberglauben hin. Außerdem ist der Glaube an „das Berufen“ bei den Rumänen in verschiedenen Äußerungsformen besonders bei der Landbevölkerung auch heute noch verbreitet.
Den Feldforschern, die in den 60er-, 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts Mundartaufnahmen in den meisten Teilen der siebenbürgisch-sächsischen Mundartlandschaft gemacht haben, erstatteten die Gewährspersonen bezüglich „des Berufens“ meist Mundartberichte, die die Zeitspanne Anfang 19. Jahrhundert bis etwa um 1940 umfassten (so hieß es zuweilen: „Zur Zeit meiner Großmutter ...“). Aussagekräftig ist diesbezüglich ein nordsiebenbürgischer Beleg um 1930: „det beraafn asz, oawer et hiirt nau oaf, de leit gi nami esu fil droaf“ („der Glaube daran ist noch vorhanden, wenn auch im Rückzug begriffen, die Leute halten nicht mehr viel davon“), (Weilau). Demnach ist es nicht nachzuvollziehen, bis wann sich der Glaube an „das Berufen“ mit seinen Schutzmaßnahmen und Heilverfahren erhalten hat. Auch haben im Laufe der Zeit durch die Auswanderungswellen zunächst die nordsiebenbürgischen, dann auch die südsiebenbürgischen Ortschaften an sächsischer Bevölkerung eingebüßt. In der neuen Heimat stand die Anpassung an moderne Lebensformen im Vordergrund. Die medizinischen Fortschritte und Möglichkeiten haben sicher auch dazu beigetragen, dass der „Glaube an das Berufen“ samt den damit verbundenen primitiven, doch interessanten Heilprozeduren der Vergangenheit angehört.
(Schluss)
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